Interview

„Situation in infra­­struktur­schwachen Gebieten Deutschlands erzwingt neue Organisations- und Kommunikations­­formen“

Unter dem Motto „Nutzung, Nutzer und Nutzen von Telematik in der Gesundheits­­versorgung – eine Standort­bestimmung“ findet am 3. und 4. Juli 2013 in Berlin die 18. Telemed statt. Prof. Dr. Peter Haas leitet das Programmkomitee und gibt eine Vorschau.

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Gesundheits- und Sozialversorgung stehen durch Änderungen der Bevölkerungs­struktur unter zunehmendem Veränderungsdruck. Bei der Bewältigung dieser neuen Rahmen­bedingungen spielen Telemedizin und Telematik eine immer wichtigere Rolle.  Doch noch gibt es hinsichtlich der Telematikinfrastruktur und dem Umgang mit telemedizinischen Anwendungen viele offene Fragen. Einige davon adressiert die diesjährige Telemed, wie Prof. Dr. Peter Haas, Professor für medizinische Informatik an der Fachhochschule Dortmund, im Interview erläutert.

Portraitbild Haas Interview 2013

Prof. Dr. Peter Haas © TMF e.V.

Die Telemed 2013 versteht sich als ein Forum für den gesellschaftlichen und wissenschaftlichen Diskurs rund um IT-gestützte Verfahren zur Verbesserung der Gesundheits­versorgung. Welches sind für Sie dieses Jahr die wichtigsten Themen?

Da ist aus meiner Sicht einerseits der Themenkomplex, der sich mit Aspekten der Telematik­infrastruktur beschäftigt. Jede Tele­medizin­anwendung braucht ja eine verlässliche und sichere Telematik­infrastruktur. Heute müssen die Projekte diese quasi „selbst bauen“, das kann aber nicht so bleiben. Daher wollen wir dieses Thema als Entree für die anwendungsorientierten Berichte vorne weg stellen. Wir wollen diskutieren, welche Anforderungen die Anwender an die Telematik­infrastruktur heute haben und hören, wie der Stand der Umsetzung ist. Mit diesem Themen­schwer­punkt wollen wir auch den Akteuren in der Selbstverwaltung signalisieren, dass die Branche ganz dringend auf die seit langer Zeit versprochene Infrastruktur wartet, die die Basis für gute und nachhaltige Tele­medizin­anwendungen sein wird.  

Natürlich sind dann die Erfahrungsberichte zu telemedizinischen Anwendungen für die Routineversorgung innerhalb des professionellen Versorgungssystems aber auch Anwendungen und Apps für die Krankheits­bewältigung und das Selbst­management wichtige Themenblöcke unserer Telemed.

 

Dieses Jahr ist das Themen­spektrum breiter als in den vergangenen Jahren. Warum ist das so?

Die Telemed ist eine anwendungs­orientierte Veranstaltung, die sich aber auch um wichtige Kontextaspekte - im politischen Raum oder bezogen auf Infrastruktur und Semantikthemen - kümmert. Der Grund dafür liegt darin, dass die isolierte Betrachtung der telemedizinischen Fragestellungen und Lösungen wichtig, aber eben nur punktuell ist. Fast alle Lösungen haben heute Projektcharakter. Sie sind selten nachhaltig, weil Kontextaspekte und damit verbundene Fragestellungen wie eine nachhaltige technische Infrastruktur, Semantik (gemeinsame Sprache), einrichtungs­übergreifende Prozessgestaltung, Finanzierung, Haftungsrecht und Datenschutz nicht immer ausreichend berücksichtigt wurden und eben auch nicht flächendeckend geklärt sind. Wir brauchen also begleitend zu den Anwendungs­beispielen den gesellschaftlichen und fachlichen Dialog, wie wir in diesen Themenfeldern weiterkommen, mit Regelungen und Blaupausen für alle Projekte.

 

Eine bessere Gesundheits­versorgung ist ohne Fortschritte in der medizinischen Forschung nicht denkbar. Die TMF als Mitveranstalterin der Telemed engagiert sich für die Sekundärnutzung von klinischen Daten für die Forschung. Wie adressiert die Telemed 2013 dieses Thema?

Zunehmend – das zeigt sich z.B. auch an der amerikanischen Initiative unter dem Namen ‚Learning Healthcare System‘ – setzt sich die Auffassung durch, dass sich klinische Forschung und Wissensgenerierung zum Teil auch auf Basis von Routinedaten vollziehen muss. Neue Medikamente werden natürlich in größeren klinischen Studien getestet. Aber es gibt bisher keine strategischen, flächendeckenden Auswertungs- oder Monitoringansätze, um die Wirkung dieser zugelassenen Medikamente unter Alltagsbedingungen in Kliniken und Praxen zu evaluieren. Auch die aus meiner Sicht so dringend benötigte Versorgungsforschung - vor allem auch im ambulanten Bereich - muss auf Routinedaten aufsetzen. Außerdem bietet die Sekundärnutzung von klinischen Daten eine kostengünstige Alternative zu der teuren, extra gestalteten und realisierten Datenerhebung über klinische Studien. Die Telemed widmet sich deshalb auch diesem Thema in einer eigenen Session, in der es um infrastrukturelle und datenschutz­bezogene Aspekte für solche Zweitnutzungen geht.

 

Gelingen Krankheits­bewältigung und Selbst­management durch Health-Apps auf dem Smartphone besser?

Solche Anwendungen können eine sehr große Hilfe bei der Selbstreflektion sein und so auch die Compliance und Eigenverantwortung des Patienten erhöhen. Sie können auch bei der Erinnerung zu bestimmten Aktivitäten oder Medikamenten­einnahmen helfen, zum Beispiel bei der Berechnung von Kalorien und Nahrungs­zusammensetzung. Am Ende jedoch sind es technische Hilfsmittel - und die tatsächliche Krankheits­bewältigung oder das Selbstmanagement werden natürlich auch durch Eigendisziplin, soziales Umfeld, andere Faktoren und auch die Krankheit selbst beeinflusst. Daher –und diesen Diskurs suchen wir auch auf der Telemed – muss man immer sehr genau prüfen, in welchen Anwendungs­szenarien diese Hilfsmittel wirklich sachgerecht eingesetzt werden können und sollten. Sie dürfen auf keinen Fall zum Alibi werden dafür, dass man den chronisch oder schwer kranken Patienten alleine lässt nach dem Motto: „So nun manage dich mal selbst mit deiner App.“

 

Der Bewertungs­ausschuss von Kassenärztlicher Bundesvereinigung und GKV-Spitzenverband hat im März 2013 die vom Gesetzgeber gesetzte Frist verstreichen lassen, in der er prüfen sollte, inwieweit ambulante telemedizinische Leistungen in den EBM aufgenommen werden sollen. Welche Auswirkungen hat dies für die Anwendung der Telemedizin in Deutschland?

Wenngleich es hier erneut zu Verzögerungen gekommen ist, zeigt das, welche große Bedeutung Telemedizin in der Zukunft haben wird. Vergütungs­regelungen können immense Auswirkungen haben und müssen wohl überdacht sein – hier scheint man sich also sehr schwer zu tun. Den Fortgang der Telemedizin wird diese Verzögerung nicht wesentlich aufhalten, da schon alleine die zum Teil prekäre Versorgungs­situation in infrastruktur­schwachen Gebieten Deutschlands neue Organisations- und Kommunikations­formen erzwingt. Dies betrifft vor allem die Themen Telemonitoring und Telezweitmeinung bzw. Teleexpertise.

 

Herr Prof. Dr. Haas, wir danken für das Gespräch!

 

Das Interview führte Beate Achilles. Es erscheint auch in der Zeitschrift E-Health-COM 3 | 2013.

Prof. Dr. Peter Haas lehrt Medizinische Informatik an der Fachhochschule Dortmund. Seit 2005 ist er zudem Sprecher des nationalen Beirats der gematik.