Long COVID: "Erkenntnisse teilen, Synergien nutzen"

Sebastian C. Semler ist Geschäftsführer der Technologie- und Methodenplattform für die vernetzte medizinische Forschung (TMF). © TMF e.V.
Mit einem Treffen im Bundesministerium für Gesundheit (BMG) fiel kürzlich der Startschuss für 30 Projekte, die das Krankheitsbild Long COVID weiter erforschen, neue Versorgungsformen entwickeln und bestehende Konzepte erweitern werden. Die Vernetzung der vom BMG geförderten Projekte erfolgt durch eine Koordinierungsstelle, die bei der Technologie- und Methodenplattform für die vernetzte medizinische Forschung e. V. (TMF) angesiedelt ist. Über Ziele und Herausforderungen der Projektarbeit haben wir mit Sebastian C. Semler gesprochen, Geschäftsführer der TMF und Leiter der Koordinierungsstelle.
Herr Semler, welche Ziele werden mit dieser Förderung durch das Bundesministerium für Gesundheit verfolgt?
Long COVID ist eine ernste Herausforderung für das Gesundheitssystem, da viele Betroffene unter langanhaltenden Beschwerden leiden und die Mechanismen der Erkrankung noch nicht vollständig verstanden sind. Wir haben hohe Fallzahlen und viel Leidensdruck bei den Betroffenen. Auch kostet Long COVID das Gesundheitswesen wie die Gesellschaft insgesamt viel, etwa durch Krankheitsausfälle oder gar Erwerbsunfähigkeit. Wir müssen also die Versorgung von Betroffenen verbessern – und dazu brauchen wir fundierte wissenschaftliche Erkenntnisse. Daher hat das Ministerium 2024 den bis 2028 laufenden Förderschwerpunkt „Erforschung und Stärkung einer bedarfsgerechten Versorgung rund um die Langzeitfolgen von COVID-19 (Long COVID)“ initiiert. Durch die gezielte Förderung einer koordinierten Austauschplattform soll eine enge Zusammenarbeit zwischen den verschiedenen Forschungsgruppen und Versorgungseinrichtungen in den 29 Projekten entstehen.
Wie ist die Projektstruktur im Netzwerk aufgebaut?
Die Struktur besteht aus interdisziplinären Projekten, die unterschiedliche Schwerpunkte abdecken, etwa klinische Studien, Registerforschung oder die Analyse von Versorgungsdaten. Über das Projekt „LongCARE – Platform for integrated Long-COVID Care And REsearch“ bauen wir als TMF eine Koordinierungsstelle und die erwähnte Austauschplattform für die Projekte auf, wir generieren Wissen, vernetzen Expertise. Gemeinsam mit den Projekten wollen wir Standards festlegen und eine Dateninfrastruktur aufbauen, um die gewonnenen Daten auch projektübergreifend effizient nutzen zu können. Die Koordinierungsstelle wird hierbei eng mit dem Netzwerk Universitätsmedizin (NUM) und der Arbeitsgemeinschaft der Wissenschaftlichen Medizinischen Fachgesellschaften (AWMF) als Partner zusammenarbeiten. Gemeinsam mit dem Institut für angewandte Versorgungsforschung (inav) sind wir auch für die Evaluation der Projekte verantwortlich, werden ihre Wirksamkeit prüfen und hoffen, dass Ergebnisse, nützliche Erkenntnisse und Anregungen in die Regelversorgung einfließen können.
Wie werden in den Projekten Daten generiert?
In den Projekten werden sowohl neue Daten durch klinische Studien und Befragungen erhoben als auch Versorgungs- sowie Routinedaten aus dem Forschungsdatenzentrum Gesundheit (FDZ) beim Bundesinstitut für Arzneimittel und Medizinprodukte (BfArM) genutzt werden. Beide Datenquellen oder auch ihre Kombination ermöglichen eine umfassende Analyse der Langzeitfolgen von Long COVID und darüber hinaus des Postakuten Infektionssyndroms (PAIS) einschließlich der Erkrankung ME/CFS. Dabei wird natürlich darauf geachtet werden, dass die Datennutzung nach höchsten Datenschutz- und Qualitätsstandards erfolgt, um belastbare und aussagekräftige Forschungsergebnisse zu erzielen.
Welche Herausforderungen sehen Sie bei der projektübergreifenden Datennachnutzung?
Jedes einzelne Forschungsprojekt verfolgt eine eigene Fragestellung, für die es bestimmte Daten erhebt und auswertet, in einem begrenzten Zeitrahmen. Die projektübergreifende Datennachnutzung steht dabei naturgemäß nicht im Mittelpunkt. Wir müssen gemeinsam, ohne die Projekte zu behindern, versuchen, geeignete Festlegungen zu treffen, zum Beispiel zu Datenstandards oder zu harmonisierten Formulierungen in den Patienteneinwilligungen als Rechtsgrundlage zur Datenverarbeitung zu einem späteren Zeitpunkt. So stellen wir sicher, dass Daten auch für zukünftige Forschungsvorhaben genutzt werden können, ohne dass eine erneute Einwilligung erforderlich ist.
Wie arbeitet das Netzwerk mit anderen Long-COVID-Projekten zusammen?
Wie wir wissen, betrifft Long COVID nicht nur Erwachsene, sondern leider auch Kinder und Jugendliche. Daher hat das Bundesministerium für Gesundheit einen zweiten mehrjährigen Förderschwerpunkt mit Modellmaßnahmen zur Versorgung junger Betroffener aufgesetzt. Mit diesen Projekten arbeiten wir eng zusammen. Auch mit den Projekten zu Long COVID, die das Bundesministerium für Bildung und Forschung (BMBF) sowie der Gemeinsame Bundesausschuss (G-BA) über seinen Innovationsfonds fördern, werden wir kooperieren. Es ist wichtig, Erkenntnisse zu teilen, Synergien zu nutzen und eine bestmögliche Datenintegration zu ermöglichen. Nur so können wir die Forschung weiter vorantreiben und Betroffenen helfen.
Wie wichtig sind Fortbildungen in den Long-COVID-Projekten?
Fortbildungen sind essenziell, um das Wissen über Long COVID in die klinische Praxis zu bringen. Wir werden intensiv an Möglichkeiten arbeiten, um Forschungsergebnisse breit zu streuen, und die klinischen Partner darin unterstützen, Expertise zur Diagnostik und Behandlung an andere Ärztinnen und Ärzte weiterzugeben. Damit wollen wir dazu beitragen, das Bewusstsein für die Erkrankung etwa in verschiedenen medizinischen Fachrichtungen zu schärfen.
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