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"Standards auch über die klinische Forschung hinaus"

Interview mit Daniel Rehn und Udo Siegmann zur Nutzung und Verbreitung des Datenstandards des Clinical Data Interchange Standards Consortium (CDISC)

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"In den letzten Jahren hat sich der CDISC-Horizont stark ausgeweitet und geht jetzt über die klinische Forschung deutlich hinaus. Die TMF als eine sektorübergreifende Organisation kann eine nationale Mentorenrolle übernehmen, um die Prozesse der patientenorientierten Forschung im öffentlichen Gesundheitsbereich zu harmonisieren."

Portraitbilder Siegmann Rehn 2010

Udo Siegmann, Daniel Rehn © TMF e.V.

Herr Siegmann, Sie haben viele Jahre in verschiedenen Managementpositionen bei PAREXEL weltweit Arzneimittelzulassungsstudien durchgeführt und sich aus Ihrer Erfahrung heraus schon früh bei CDISC engagiert. Mit welchen Visionen in Bezug auf Erleichterung und Verbesserung von klinischen Studien ist CDISC gestartet? Wie weit ist man damit gekommen und was kann die TMF dazu beitragen, um den Prozess der Verbesserung und Erleichterung von klinischen Studien zu unterstützen?


Siegmann: Die ursprüngliche CDISC Mission bestand darin, Standards für die Gewinnung, den Transfer, die Einreichung und die Archivierung klinischer Daten zu schaffen. Hinsichtlich der Einreichung klinischer Daten bei Zulassungsverfahren wurden diese Visionen in entsprechende Anforderungen der US Zulassungsbehörde FDA umgesetzt.
In den letzten Jahren hat sich der CDISC Horizont zudem sehr stark ausgeweitet und geht jetzt über die klinische Forschung deutlich hinaus. Zusammen mit anderen Standardisierungsorganisationen, wird auf verschiedenen strukturellen Ebenen an der Integration von Forschung im Gesundheitswesen gearbeitet. Die TMF als eine sektorübergreifende Organisation kann eine nationale Mentorenrolle übernehmen, um die Prozesse der patientenorientierten Forschung im öffentlichen Gesundheitsbereich zu harmonisieren.

 

Sie sind einer der Gründerväter der europäischen CDISC Gruppe e3C und waren von 2000 bis 2006 deren erster Chairman. Wie hat sich CDISC und seine Bedeutung aus ihrer Sicht mit den Jahren verändert? Wie wurde früher im Vergleich zu heute bei CDISC gearbeitet?


Siegmann: Schon frühzeitig nach Gründung von CDISC in den USA im Jahr 1997 wurde klar, dass Europa ein integraler Bestandteil der CDISC Community sein würde. Durch die Gründung des e3C (European CDISC Coordination Committee) wurde eine regionale Interessenvertretung geschaffen. Hauptaufgabe war und ist die Kommunikation der CDISC Strategie unter Beachtung regionaler bzw. nationaler Erfordernisse und Regularien.
Eine weitere wichtige Aufgabe ist die Unterstützung des Netzwerkgedankens der CDISC Community durch Kongresse, Seminare und Trainingsangebote. Die Ausweitung des Aufgabenspektrums erforderte ein professionelles Management mit präziser Rollenverteilung, jedoch weiterhin auf Non-Profit Basis. Die Erfolgsgeschichte des e3C war Auslöser für weitere regionale CDISC Vertretungen in Indien, China, Japan und Australien.

 

Eine der jüngsten Aktivitäten von CDISC ist der Aufbau von lokalen oder regionalen Usergroups. Nach 2 ½ Jahren und 7 Sitzungen hat hier im Sommer 2010 der Vorsitz gewechselt; Daniel Rehn, Program Manager Divisional Medical and Scientific Affairs bei Roche Diagnostics, hat sein Amt als Chairman abgegeben.
Herr Rehn, wie sehen Sie die Entwicklung der deutschen User Group in dieser ersten Phase? Welche besondere Bedeutung kommt den User Groups innerhalb der CDISC Community zu?

 

Rehn: Ich denke die deutschsprachige CDISC User Group hat sich seit ihrer Gründung im Jahr 2007 gut etabliert. Wir greifen hier mittlerweile auf ein Netzwerk von ca. 140 Mitgliedern zurück, welche in der pharmazeutischen Industrie, in Auftragsforschungsinstituten und in der akademischen Forschung arbeiten. Wir treffen uns zweimal im Jahr für ganztägige Meetings sowie ein weiteres Mal im Rahmen des jährlichen CDISC European Interchange Kongresses. Je nach Austragungsort besuchen in der Regel zwischen 40 und 50 Teilnehmer diese Meetings. Inhaltlich steht dabei der gemeinsame Erfahrungs- und Wissensaustausch rund um die verschiedenen CDISC Standards im Vordergrund. Die Qualität der angebotenen Präsentationen und Workshops wird von den Teilnehmern dabei durchweg als gut bis exzellent bewertet. Neben dem Erfahrungs- und Wissensaustausch werden in Arbeitsgruppen einzelne CDISC Standards vertieft angeschaut und diskutiert. Kritikpunkte oder Funktionalitätsanfragen werden dabei direkt an die CDISC Teams weitergegeben. Bei neuen Standards oder neuen Versionen von etablierten Standards wurden auch schon Kommentare innerhalb der User Group konsolidiert und an das CDISC Konsortium weitergeleitet.
Um einen effizienten Austausch über die CDISC Standards zu erreichen, werden unsere Aktivitäten im Internetportal der deutschsprachigen CDISC User Group veröffentlicht. Diese Information kann jederzeit von allen Mitgliedern und auch anderen User Groups eingesehen werden.
Die Aktivitäten der deutschsprachigen User Group seit 2007 sind in einer kurzen Übersicht zusammengestellt und online abrufbar.

 

Trotz allen Engagements ist die Nutzung des CDISC Standards auch in der pharmazeutischen Industrie noch nicht der Regelfall. Was sind die wichtigsten Hemmnisse und was kann man dagegen tun? Wie unterscheiden sich die akademische und die industrielle Forschung beim Einsatz von CDISC?


Rehn: Einerseits bedeuten neue Standards immer, dass etablierte eigene Standards aufgegeben und Arbeitsprozesse angepasst werden müssen. Dies ist ein nicht zu unterschätzender Faktor, denn die dafür verantwortlichen Teams sind mit immer neuen Studien und Produkteinführungen ohnehin mehr als ausgelastet. Andererseits beziehen sich bestehende interne Datenbanken wie z.B. Drug Safety Reporting Tools auf die bereits existierenden eigenen Standards. Eine Umstellung auf die CDISC Standards zieht also eine Kette von Änderungen nach sich und davor schrecken viele Unternehmen zurück.
Die CDISC Standards sind zudem noch nicht vollständig. Fehlende Domänen müssen selbst entwickelt und eventuell zu einem späteren Zeitpunkt den neuen Versionen der Standards angepasst werden.
Zudem ist die zögerliche Haltung der US Food and Drug Association (FDA) nicht unbedingt hilfreich. Noch immer ist nicht klar, ab wann sie nur noch elektronische Submissions akzeptieren wird, die auf den CDISC Standards basieren. Von CDISC-basierten Submissions ist gerade die diagnostische Industrie noch meilenweit entfernt, da das CDRH (Center for Devices and Radiological Health) der FDA sich bisher kaum mit CDISC Standards befasst hat. Roche Diagnostics arbeitet daher bislang kaum mit dem Study Data Tabulation Model (SDTM), wir wenden aber für den Datenaustausch schon seit Jahren erfolgreich den ODM (Operational Data Model) Standard an und sind gerade dabei den CDASH (Clinical Data Acquisition Standards Harmonization) Standard einzuführen.
Die akademische Forschung hat es da leichter, da sie in der Regel eher kleinere Studien zu einem frühen Stadium der Produktentwicklung durchführt und zudem bislang kaum über eigene Standards verfügt. Da kommen für sie die CDISC Standards natürlich gerade recht.

 

Auf dem Weg zur Standardisierung wird häufig als Roadblocker wahrgenommen, dass es nicht zu wenig, sondern zu viele verschiedene Standards gibt. CDISC beispielsweise vereint traditionell eine ganze Familie von Datenstandards und scheint mit der eigenen Vereinheitlichung nur bedingt vorangekommen zu sein. Zumindest ist von dem vor wenigen Jahren verkündeten Ziel, bald gebe es nur noch einen CDISC-Standard, derzeit nicht mehr konkret die Rede. Auch hinsichtlich der Harmonisierung mit HL7 wird in Fachkreisen noch nichts konkret Einsetzbares wahrgenommen. Welche Strategien werden bei CDISC verfolgt und wie beurteilen Sie die Perspektive?


Siegmann: Dazu möchte ich klar stellen, dass es in der „Vor“-CDISC Ära keine vergleichbaren Standards gab. Es gab Insellösungen und nationale Versuche, Datenstandards zu entwickeln.  CDISC war von Anfang an darauf ausgerichtet, praktikable, sofort umsetzbare und international akzeptierte Standards zu entwickeln. Es handelte sich nicht um eine akademische Übung, sondern die CDISC Sponsoren erwarteten einen schnellen Rückfluss ihrer Investitionen.
Innerhalb von weniger als sieben Jahren ist es gelungen, die Entwicklung des Moduls SDTM zum offiziellen Standard für die Behördeneinreichung klinischer Studien zu machen. An den weiteren Modulen (ODM, ADAM, LAB usw.) wird mit unverminderter Kraft gearbeitet, um das angestrebte Ziel eines einheitlichen Standards für alle Einzelprozesse von der  Protokollentwicklung bis zur Behördenzulassung zu erreichen.

Rehn: Ein einzelner CDISC Standard wäre vermutlich nicht durchsetzbar gewesen. Aufeinander abgestimmte CDISC Standards sind leichter einzuführen, da hierfür innerhalb eines größeren Unternehmens verschiedene Departments  verantwortlich sind. Wichtig ist eine semantische Interoperabilität zwischen allen Standards. CDISC hat mit BRIDG (Biomedical Research Integrated Domain Group) und CDISC SHARE, einem semantischen, auf dem MediaWiki-System basierenden Framework, hier in den letzten Jahren diese neue Ausrichtung konsequent und mit Erfolg vorangetrieben.

 

Daniel Rehn, PhD
Daniel Rehn, Program Manager Divisional Medical and Scientific Affairs bei Roche Diagnostics, war zwischen 2007 und 2010 zweieinhalb Jahre lang Chairman der deutschen CDISC User Group.

Dipl. Math., MD,  Udo Siegmann
Udo Siegmann hat in verschiedenen Managementpositionen bei PAREXEL weltweit Arzneimittelzulassungsstudien durchgeführt ist einer der Gründerväter der europäischen CDISC Gruppe E3C.

Das Interview führte Beate Achilles im Juni 2010. Eine Kurzfassung erscheint in der Zeitschrift E-Health-COM 4 | 2010.