Interview

„Die Gesellschaft erwartet von der Forschung, dass sie versucht, ihre Entdeckungen in die Anwendung zu bringen“

Interview mit Prof. Dr. Rudi Balling über das Projekt EATRIS, das die biomedizinische Forschung in der EU voranbringen soll

Mehrere Personen in Arzt- und OP-Kitteln stehen auf einem großen leuchtenden Handy. Über ihren Köpfen sind diverse Symbole, wie ein Herz und eine Gebärmutter, zu sehen.

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"Wenn ein Forscher in seiner freien Grundlagen­forschung etwas entdeckt hat, woraus man eventuell ein Medikament entwickeln könnte, benötigt er die professionelle Unterstützung durch eines der EATRIS-Zentren, damit dieses Medikament später eine Chance auf Zulassung hat. Ich glaube, die Gesellschaft erwartet von der Forschung, dass sie versucht, ihre Entdeckung in die Anwendung zu bringen."

Portrait Balling 2010

Prof. Dr. Rudi Balling © TMF e.V.

Die Überführung von Erkenntnissen der medizinischen Grund­lagen­forschung in die klinische Praxis gelingt im europäischen Forschungsraum nicht ohne Hindernisse. Worin liegen die Schwierigkeiten?

Grundlagenforscher und Kliniker leben in verschiedenen Welten, die man näher zusammenbringen muss. Die meisten Forscher wissen zu wenig vom klinischen Alltag, den rechtlichen Voraussetzungen für die Zulassung eines Medikaments oder den Anforderungen an die Dokumentation der Versuchs­bedingungen. Deshalb werden in Forschungs­projekten oft Fehler gemacht, die die Ergebnisse anschließend schwer verwertbar machen. Dabei gibt es Fachleute, die den Forschern diese Informationen geben könnten. Deshalb wollen wir – bildhaft gesprochen – mit EATRIS einen gemeinsamen Kaffeeraum einrichten, wo die Spezialisten miteinander reden können, um Fehler zu vermeiden.

 

Wie sieht so ein „Kaffeeraum“ aus?

In zehn EU-Ländern sollen EATRIS Zentren zu den Schwerpunktbereichen Krebs, Infektions­krankheiten, Herz-Kreislauf-Erkrankungen, Stoffwechsel- und neurologische Krankheiten entstehen. An diesen Standorten wird es eine hochwertige Infrastruktur in Form von Gebäuden, Geräten, Apparaten, Tierhäusern, Krankenhäusern etc. geben. Diese Zentren sollen organisatorisch so gut vernetzt werden, dass jeder Forscher in der EU sie schnell nutzen kann, um sein Forschungsthema abzuarbeiten.

In den EATRIS-Zentren sollen auch Experten als Berater zur Verfügung stehen. Sie geben vor Beginn eines neuen Forschungsprojekts Orientierung darüber, ob und in welchen Bereichen eine vorliegende Entdeckung Chancen auf Überführung in ein Produkt hätte, für das sich beispielsweise ein Pharma­unternehmen interessieren würde, und ob sie zur Verhinderung und Behandlung von Krankheiten relevant ist.

 

Schränkt das nicht die Forschungs­freiheit ein?

Nein. Der Forscher wendet sich erst dann an ein EATRIS-Zentrum, wenn er in seiner freien Grundlagen­forschung etwas entdeckt hat, woraus man eventuell ein Medikament entwickeln könnte. Erst in diesem Moment benötigt er die professionelle Unterstützung, damit das Medikament später eine Chance auf Zulassung hat. Ich glaube, die Gesellschaft erwartet von der Forschung, dass sie versucht, ihre Entdeckungen in die Anwendung zu bringen.

 

Woran wird bei EATRIS gerade gearbeitet? Was haben Sie dort in den letzten beiden Jahren erreicht?

Wir haben einen Businessplan entwickelt, der definiert, welche Institutionen an EATRIS teilnehmen, wie die EATRIS-Infrastruktur finanziert wird, wie die Kommunikations­wege und die Ablaufprozesse sein werden. Daraus entsteht aktuell eine Publikation, die die Konzeptidee von EATRIS beschreibt.

 

Wie sieht es  mit der Zukunft von EATRIS nach Ende der Vorbereitungs­phase (2008 – 2010) aus?

Wir müssen eine möglichst nahtlose Weiter­finanzierung erreichen, da wir sonst wertvolle Mitarbeiter verlieren. Damit die Regierungen und Forschungs­organisationen frühzeitig die Gelder mit einplanen können, haben wir deren Vertreter in die Arbeitsgruppen mit einbezogen. Die EU wird dann Kommunikations­maßnahmen und beispielsweise Reisen der Forscher zu den nationalen EATRIS-Zentren finanzieren. 

 

Die TMF ist an zwei Arbeitspaketen von EATRIS zur Standardisierung und Harmonisierung sowie zu Regulierungs­themen direkt beteiligt. Wie kann EATRIS von der Expertise und der besonderen Struktur der TMF profitieren?

Die TMF hat schon sehr früh damit begonnen, sich über die Infrastruktur in der bio­medizinischen Forschung Gedanken zu  machen. Sie hat dafür Prozesse und Verfahren, Qualitätsmaßstäbe, Leitfäden und vieles mehr entwickelt. Wir waren sehr froh, die TMF mit diesem Know-How als Partner für EATRIS zu gewinnen. Wenn man Verfahren entwickelt, so wie wir es tun, ist das sehr hilfreich.

 

Prof. Dr. Rudi Balling ist Koordinator des EATRIS-Projektes und Direktor des Luxembourg Centre for Systems Biomedicine (LCSB) an der Universität Luxemburg.

Das Interview führte Beate Achilles im März 2010. Eine Kurzfassung erscheint in der Zeitschrift E-Health-COM 2 | 2010.