Nachbericht zur gemeinsamen Jahrestagung von GMDS und TMF: Digitale Medizin braucht nachhaltigen Datenzugang
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670 Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftler aus Informatik, Biometrie und Epidemiologie kamen vom 26.-30. September 2021 auf der Jahrestagung der Deutschen Gesellschaft für Medizinische Informatik, Biometrie und Epidemiologie e.V. (GMDS) und der Technologie- und Methodenplattform für die vernetzte medizinische Forschung e.V. (TMF) zusammen. Das Motto der Online-Konferenz „Digitale Medizin. Erkennen, Verstehen, Heilen“ spiegelt die Chancen wider, die sich aus der Digitalisierung für Ärztinnen und Ärzte, Patientinnen und Patienten sowie für Forschende in der Medizin ergeben.„Digitalisierung muss primär der Verbesserung der Gesundheitsversorgung dienen“, merkte Prof. Dr. Jens Scholz, Vorstandsvorsitzender des Uniklinikums Schleswig-Holstein, Campus Kiel, in seinem Grußwort für die Konferenz an. „Domänen- und einrichtungsübergreifende Vernetzung, Big Data, KI und Robotics können aber auch die Forschung verbessern, so dass Forschung durch Nutzung der Chancen der Digitalisierung ebenfalls zum Patientenwohl beiträgt. Dafür müssen umgehend die notwendigen infrastrukturellen Voraussetzungen geschaffen werden.“
Digitale Gesundheitsdaten bilden eine wesentliche Grundlage für Innovationen in der Medizin. Die systematische Nutzung dieser Daten ist essentiell für die Diagnostik und Prävention von Erkrankungen sowie für die Entwicklung neuer Therapien. Hochrangige Referentinnen und Referenten aus dem In- und Ausland befassten sich deshalb in neun Keynotes, 23 Vortragssessions, drei Paneldiskussionen und 15 Workshops mit technischen und methodischen Fragen rund um Datenmanagement, Datenanalyse, Datenschutz und Datensicherheit von Gesundheitsdaten. Außerdem wurden die ethischen, rechtlichen und politischen Rahmenbedingungen der Forschungsnutzung von Gesundheitsdaten in Deutschland beleuchtet.
„Um die künftigen Herausforderungen der Medizin besser adressieren zu können, haben sich Experten aus unterschiedlichsten Disziplinen bei der Konferenz mit dem Ziel ausgetauscht, gemeinsam Lösungen für eine nachhaltige Digitalisierung der medizinischen Forschung zu erarbeiten“, erläutert Prof. Dr. Alfred Winter, Präsident der GMDS, die Bedeutung der interdisziplinären Konferenz. „Wichtig ist der Aufbau nachhaltiger Dateninfrastrukturen, die nicht nur der Versorgung, sondern auch der Forschung einrichtungsübergreifend standardisierte Daten in hoher Qualität zur Verfügung stellen. Dafür muss die Trennung zwischen Forschung und Versorgung zunehmend überwunden werden, was mit Entwicklungen wie der Einführung der forschungskompatiblen elektronischen Patientenakte und dem Aufbau der Datenintegrationszentren der Medizininformatik-Initiative in greifbare Nähe rückt“, so Prof. Dr. Michael Krawczak, TMF-Vorstandsvorsitzender und einer der Tagungspräsidenten.
Forschungskompatible elektronische Patientenakte (ePA) startet 2023
Dem interdisziplinären Diskurs auf der Konferenz kommt insbesondere angesichts der Einführung der elektronischen Patientenakte in 2021 eine große Bedeutung zu. Ab 2023 sollen Patientinnen und Patienten gem. § 363 SGB V die Möglichkeit haben, Teile ihrer in der ePA gespeicherten Versorgungsdaten für medizinische Forschungszwecke freizugeben. Bis dahin müssen jedoch die erforderlichen Schnittstellen zwischen ePA und Leistungserbringern, Patienten und Forschenden geschaffen werden.
Lena Dimde von der gematik erläuterte, dass ab 1.1.2022 erste strukturierte Datentypen wie z.B. Mutter- und Impfpass in der ePA vorliegen werden und ab 1.1.2023 die Datenfreigabe über ein Forschungsdatenzentrum oder, bei Vorliegen einer entsprechenden Einwilligung durch die Betroffenen, direkt in einer Leistungserbringerinstitution möglich sein wird.
„Die Forschungsnutzung der elektronischen Patientenakte ist ein wichtiger Impuls für den strategischen Ausbau der Datennutzung von Versorgungsdaten und damit für eine verbesserte Verzahnung von medizinischer Forschung und Versorgung“, betont TMF-Geschäftsführer Sebastian C. Semler im von der TMF organisierten Panel zur Nutzung der ePA für die medizinische Forschung. „Mit der elektronischen Patientenakte haben wir somit die Chance, die Grundlagen für eine nachhaltige Dateninfrastruktur in der deutschen Medizinlandschaft zu legen - unter obligater enger Verzahnung von Forschung und Versorgung. Die vom Bund geförderte Medizininformatik-Initiative (MII) und die in ihr zusammengeschlossenen Datenintegrationszentren der Universitätsmedizin stehen bereit, diese Forschungsnutzung gemeinsam mit der gematik zu pilotieren“, betont Semler, der die MII-Koordinationsstelle leitet.
Prof. Dr. med. Anke Diemert vom Universitätsklinikum Hamburg-Eppendorf (UKE) erläuterte die Vorteile der ePA aus der Sicht einer klinisch tätigen Ärztin in der Geburtsmedizin: „Durch die jederzeit verfügbare elektronische Patientenakte können detaillierte Befunde interdisziplinär und interprofessionell geteilt werden. So läßt sich eine kontinuierliche und transparente Betreuung der Patientinnen und Patienten besser gewährleisten.“
Klinik-IT-Leiter Andreas Henkel von der TU München ruft dazu auf, die Chance der ePA zu nutzen und sich für eine bessere Interoperabilität der Versorgungs- und Forschungsdatenverarbeitung einsetzen. „Heute können Dokumente nur wenig strukturiert übergeben werden, aber mit den Entwicklungen des ISiK – Informationstechnische Systeme in Krankenhäusern (§ 373 SGB V) - und den Ankündigungen zur TI 2.0 besteht die Hoffnung, dass Daten einheitlich aus allen medizinischen (IT-)Fachverfahren an die ePA übergeben werden. IT-Verantwortliche aus Krankenhäusern, Forschende und die Softwareindustrie sollten sich in den Entwicklungsprozess zum ISiK-Standard noch mehr einbringen, da es hier eine große Chance für einheitlichere Interoperabilitätprinzipien der Versorgungs- und Forschungsdatenverarbeitung gibt.“
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IT-Lösungen der Medizininformatik-Initiative präsentiert
Eine der wichtigsten Initiativen zur Digitalisierung der Medizin in Deutschland ist die Medizininformatik-Initiative. Sie schafft derzeit die Voraussetzungen dafür, Routinedaten der klinischen Versorgung deutschlandweit für die medizinische Forschung nutzbar zu machen. Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftler stellten in verschiedenen Sessions IT-Anwendungen zur Datenvernetzung, -aufbereitung und -analyse vor, die in den Konsortien der MII entwickelt wurden.
Beispielsweise wurde eine am Universitätsklinikum Heidelberg entwickelte Webanwendung präsentiert, mit der Klinikerinnen und Kliniker medizinische Daten von Patientinnen und Patienten mit Herzinsuffizienz schneller auswerten können. Das Dashboard wurde im Rahmen des Use Case Kardiologie des HiGHmed-Konsortiums der MII entwickelt und ermöglicht eine visuelle Darstellung und Analyse von Daten, die per Smartwatch erhoben wurden.
Hoffnungsträger Künstliche Intelligenz
Im letzten Jahrzehnt hat eine wahrhaftige Revolution computergestützter Ansätze in der Medizin stattgefunden. Heute besteht weitgehender Konsens, dass Künstliche Intelligenz (KI) viele Bereiche des Gesundheitswesens grundlegend verändern wird. „Während vielfach nur die technische Leistungsfähigkeit diskutiert wird, liegt die wahre Herausforderung jedoch in der Integration der KI in die klinische Arbeitswelt und in der Akzeptanz durch die Nutzer“, erläutert Prof. Dr. Björn Bergh, Tagungspräsident für die GMDS.
Auch Prof. Dr. Enrico Coiera, Direktor des Center for Health Informatics am Australian Institute of Health Innovation, mahnte in seiner Keynote an, dass Nutzerbedürfnisse stärker in das Design von KI-Anwendungen einfließen müssten, um deren Akzeptanz und Erfolgschancen zu steigern. Er erhob zudem die Forderung nach einer stärkeren Fokussierung auf die Replizierbarkeit von Studien in der Medizininformatik.
Diese Forderung unterstrich auch Prof. Dr. Anne-Laure Boulesteix von der Ludwig-Maximilians-Universität München. Sie wies auf eine Replikationskrise in der methodologischen computationalen Forschung hin, die sich unter anderem in Form von “P-Hacking”, Überoptimismus, unpräzisen Forschungshypothesen und Analyseplänen oder einem Publikationsbias in verschiedenen Anwendungsbereichen der Statistik zeige. Sie rief die Community dazu auf, die Probleme der methodologischen Forschung anzugehen.
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SARS-CoV-2-Pandemie zeigt die Probleme fehlender Daten auf
Mehrfach wurde auf der Konferenz das Thema der Corona-Pandemie diskutiert. Die Pandemie hat aufgezeigt, wie rudimentär die Datenlage in weiten Teilen des Gesundheitswesens und der medizinischen Forschung in Deutschland ist. Hauptproblem ist dabei nicht ein Mangel an digitaler Dokumentation, sondern die weitgehende Fragmentierung der existierenden Datenbestände. Die Schuld an diesem Missstand wird vielfach dem Datenschutz zugeschoben. Weitreichende politische Entscheidungen mussten ohne hinreichende Datenbasis getroffen werden. Mathematische Modellierung wurde in der Pandemie häufig als Kompensation für die schlechte Datenlage herangezogen, jedoch hängt auch die Aussagekraft mathematischer Modelle letztlich von der Qualität der ihnen zugrunde liegenden Daten ab.
Expertinnen und Experten forderten während der Konferenz deshalb wiederholt Augenmaß beim Datenschutz, um die Chancen der Digitalisierung in der Medizin besser nutzen zu können. „Bei näherem Hinsehen erweist sich, dass der Datenschutz der detaillierteren Erfassung des Infektionsgeschehens und einer effektiven Pandemiebekämpfung nicht im Weg steht, so Peter Schaar, Bundesbeauftragter für den Datenschutz und die Informationsfreiheit a.D.„Datenschutz darf nicht als Ausrede benutzt werden, um eigenes Versagen, intellektuelle Trägheit und mangelnde Handlungsbereitschaft zu kaschieren.“
Prof. Dr. v. Kielmansegg, Christian-Albrechts-Universität zu Kiel, fordert in seinem Statement deshalb mehr Pragmatismus beim Datenschutz: „Die vorhandenen Rechtsgrundlagen zur Datennutzung für die medizinische Forschung sollten konsequenter herangezogen werden und die neu eingeführten rechtlichen Möglichkeiten zur Harmonisierung des Datenschutzes in der Verbundforschung besser ausgeschöpft werden.“ Weiterhin fordert er, dass der Rechtsrahmen weiter optimiert werden sollte, z.B. durch eine Überarbeitung der Kautelen der gesetzlichen Forschungsklauseln und die Diskussion über das Modell einer Widerspruchslösung.
Dr. med. Ute Teichert, Vorsitzende des Bundesverbands der Ärztinnen und Ärzte des öffentlichen Gesundheitsdienstes e. V. (BVÖGD), forderte im Panel zur „Weiterentwicklung des regulatorischen Rahmens für die Datennutzung im Gesundheitswesen – „lessons learned“ aus der Corona-Pandemie?“, dass zur Pandemiebekämpfung neben digitalen Werkzeugen zur Einbindung und automatisierten Warnung von Bürgerinnen und Bürgern insbesondere auch Werkzeuge zur Entlastung der Gesundheitsämter bei Ihrer Arbeit in der Kontaktpersonennachverfolgung benötigt werden. Das erfordere eine technische Aufrüstung, einheitliche Schnittstellen in den verwendeten Softwaresystemen und die Gewährleitung der Interoperabilität, so Teichert.
Die luca-App wurde in der Corona-Pandemie zur Kontaktnachverfolgung zwischen Bürgerinnen und Bürgern, Gesundheitsämtern und Wirtschaft eingesetzt. Luca-Geschäftsführer Patrick Hennig unterstrich im Panel, dass eine „intelligente Kontaktnachverfolgung bedeutet, dass nur diejenigen Daten erhoben werden, die zur Kontaktnachverfolgung sinnvoll sind“. Datenschutz müsse Innovationstreiber sein, so Hennig.
Dr. Friedhelm Leverkus, Director HTA & Outcomes Research bei Pfizer, sprach sich in seiner Keynote für eine engere Kooperation zwischen öffentlichen und privaten Stakeholdern in der Forschung aus. Hier sind einerseits regulatorische als auch kulturelle Hindernisse zu überwinden. Leverkus stellte in seinem Vortrag weiterhin dar, dass die Pharmaindustrie in der Impfstoff- und Medikamentenentwicklung häufig auf ausländische Daten zurückgreife. Das müsse sich ändern, wünscht sich Leverkus, und fordert, dass Akademia und Industrie gemeinsam über Prozesse der Datennutzung aufklären müssten, um die Akzeptanz für industriell-privatwirtschaftliche Datenzugang in der Öffentlichkeit zu steigern.
Die Wissenschaftsministerin Katrin Prien wies im Rahmen der Konferenz darauf hin, wie wichtig die einrichtungsübergreifende Zusammenarbeit und die Vernetzung alle Disziplinen ist, um die großen gesellschaftlichen Herausforderungen bewältigen zu können. „Der Erfolg unserer Existenz liegt in der Vernetzung. Nur in einem Netzwerk, in dem wir unterschiedliche Perspektiven miteinander verknüpfen, können wir die Innovationskraft entwickeln, um die Zukunft zu gestalten“, so Prien.
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Über die Konferenz
Digitalisierung, Big Data, Künstliche Intelligenz und Robotics können helfen, Forschung und Versorgung zu verbessern. Die Konferenz „Digitale Medizin – Erkennen. Verstehen. Heilen.“ hat Chancen und Risiken des Einsatzes neuer Informationstechnologien in der Medizin thematisiert. Expertinnen und Experten aus Forschung und Versorgung, IT und Wissenschaftspolitik diskutierten in einem fünftägigen digitalen Format die Potenziale und Herausforderungen der digitalen Medizin. Die Konferenz führte die Jahrestagungen der Deutschen Gesellschaft für Medizinische Informatik, Biometrie und Epidemiologie und der Technologie- und Methodenplattform für die vernetzte medizinische Forschung in einem gemeinsamen Kongress zusammen. 2022 findet die Konferenz in Präsenz in Kiel statt.
Über die Veranstalter
GMDS e. V.
Die Deutsche Gesellschaft für Medizinische Informatik, Biometrie und Epidemiologie e. V. ist mit derzeit ca. 2.000 Mitgliedern die einzige wissenschaftliche Fachgesellschaft in Deutschland, Österreich und der Schweiz, die die fünf Disziplinen Medizinische Informatik, Medizinische Biometrie, Epidemiologie, Medizinische Dokumentation und Medizinische Bioinformatik und Systembiologie gemeinsam vertritt. Sie kooperiert mit einer Reihe benachbarter Fachgesellschaften und Verbände. Zudem entwickelt sie die Fachgebiete weiter durch sachverständige Repräsentation u. a. bei der Planung von Förderungsmaßnahmen der Öffentlichen Hand, bei Fragen der Standardisierung und Normung, bei der Errichtung von Lehrinstitutionen, bei Ausbildungs-, Weiter- und Fortbildungsfragen und bei gesetzgebenden Maßnahmen.
TMF e. V.
Die TMF ist die Dachorganisation für die medizinische Verbundforschung in Deutschland. Sie ist die Plattform für den interdisziplinären Austausch und die projekt- wie standortübergreifende Zusammenarbeit, um gemeinsam die organisatorischen, rechtlich-ethischen und technologischen Probleme der modernen medizinischen Forschung zu identifizieren und zu lösen. Die Lösungen reichen von Gutachten, generischen Konzepten und IT-Anwendungen über Checklisten und Leitfäden bis zu Schulungs- und Beratungsangeboten. Die TMF stellt diese Lösungen frei und öffentlich zur Verfügung.
Weitereführende Informationen