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Die Blaupausen sind da: Deutschland darf in der Genommedizin nicht länger abseits stehen

Europäische Genomforscherinnen und –forscher diskutieren Möglichkeiten der schnellen Einführung einer genomischen Medizin in Deutschland

Prof. Dr. Michael Krawczak

Prof. Dr. Michael Krawczak, Vorstandsvorsitzender der Technologie- und Methodenplattform für die vernetzte medizinische Forschung. © TMF e.V.

Die genomische Medizin entwickelt sich rasant: für die Therapiesteuerung von Krebserkrankungen und die Diagnose seltener Krankheiten ist sie von großer Bedeutung. Anlässlich des TMF-Workshops „Genomic Medicine in Europe – Blueprints for Germany” kamen am 27. Mai 2019 in Berlin mehr als 100 nationale und internationale Genomforscherinnen und -forscher zusammen, um die Perspektiven der Einführung einer genomischen Medizin in Deutschland zu diskutieren.

Die Gesamtgenomsequenzierung (engl. Whole Genome Sequencing, WGS) erlaubt die Erkennung nahezu aller Veränderungen im menschlichen Genom. Medizinische Expertinnen und Experten, sowie Vertreterinnen und Vertreter von Patientenverbänden, Kostenträgern und Industrie sind sich einig, dass die WGS in den Bereichen „Krebs“, „seltene Krankheiten“ und „Pharmakogenomik“ zukünftig für Diagnostik, Prävention und Therapie im Sinne einer personalisierten Medizin unverzichtbar sein wird. So können z.B. in der Onkologie medikamentöse Therapien durch WGS gezielt auf die genetische Beschaffenheit eines Tumors zugeschnitten werden, um so spezifischere und effizientere Behandlungsoptionen für die Patientinnen und Patienten zu eröffnen. Allerdings hinkt Deutschland im Bereich einer solchen „Genommedizin“ den europäischen Entwicklungen in großem Abstand hinterher, mit erheblichen Nachteilen für Patientinnen und Patienten, Forschung und Wirtschaft.

In seiner Begrüßung der Workshopteilnehmerinnen und –teilnehmer forderte Prof. Dr. Michael Krawczak vom Universitätsklinikum Schleswig-Holstein Campus Kiel, und Vorstandsvorsitzender der Technologie- und Methodenplattform für die vernetzte medizinische Forschung (TMF e. V.) deshalb verstärkte Anstrengungen zur schnellen Integration von WGS in indikationsbezogene Versorgungskonzepte:

Wir brauchen eine nationale Strategie zur Einführung der Genommedizin in Deutschland. Art und Umfang der genombasierten Diagnostik in Deutschland sind im internationalen Vergleich nicht mehr zeitgemäß.

Prof. Tim Hubbard

Prof. Tim Hubbard, Leiter der Genomanalyse des Genomics England Projects, stellte im Rahmen des Workshops die Routinenutzung von WGS im britischen Gesundheitswesen vor. © TMF e.V.

Großbritannien führt Ganz­ge­nom­se­quenz­ier­ung in die Regelversorgung ein

Nach sechsjähriger Erprobung im Rahmen eines 100.000 Genome umfassenden Pilotprojekts hat das Nationale Gesundheitssystem Englands die WGS jüngst als weltweit erstes Land in der Routinediagnostik eingeführt. Ziel ist es, die dabei anfallenden großen Datenmengen zugleich für die Verbesserung der Krankenversorgung und die Entwicklung neuer Medikamente zu nutzen. „Aufgrund des enormen Potenzials für Forschung und Versorgung wird die Ganzgenomsequenzierung nun auf fünf Millionen Individuen ausgeweitet“, erläutert Prof. Tim Hubbard, Leiter der Genomanalyse des Projekts „Genomics England“. Die hohe Auslastung der Infrastrukturen bringt wichtige Skaleneffekte: So liegen die Kosten für die WGS in Großbritannien nur noch bei umgerechnet unter 1.000 Euro. Genomics England selbst ist eine relativ schlanke privatrechtliche Organisation, die die Leistungen der Genommedizin für das nationale Gesundheitssystem Englands mittels „Contractings“ erbringe. So sind die 13 Genomic Medicine Centers in England und jeweils eines in Schottland, Nordirland und Wales als Standorte der Probengewinnung, die Standorte der eigentlichen WGS und der Rechenzentren sowie die Datenanalysedienstleister durch öffentliche Ausschreibung gefunden worden.

Die Einführung der WGS ist dabei als streng indikationsbezogenes Programm der Gesundheitsversorgung angelegt. Eine entsprechende Diagnose ist Voraussetzung für den Zugang zur WGS. Die behandelnden Ärztinnen und Ärzte und die Patientinnen und Patienten erhalten im Ergebnis einen auf das individuelle Erkrankungsbild zugeschnittenen Bericht. Eine Information über Zusatzbefunde und den Trägerstatus für genetische Risikofaktoren ist möglich, muss aber gesondert angefordert werden. Die Einführung der WGS habe laut Hubbard einen transformatorischen Effekt auf Abläufe und Behandlungsprozesse im Gesundheitswesen insgesamt gehabt, weshalb Fortbildungsangebote für alle Angehörigen der Gesundheitsberufe aufgesetzt worden seien. Während alle personenbeziehbaren Daten nur innerhalb des NHS-eigenen Datennetzes verarbeitet werden, steht für Forschende ein Fernzugriff auf anonymisierte Daten zur Verfügung. „Wir sprechen in England in Hinblick auf die Sensibilität von Gesundheitsdaten bewusst nicht länger von Datenteilung, sondern von der grundsätzlichen Zugänglichkeit von Daten“, so Hubbard.

Franck Lethimonnier

Franck Lethimonnier. © TMF e.V.

Genomische Medizin in ganz Europa immer wichtiger

Anschließend stellte Franck Lethimonnier aus Paris mit dem France Médicine Génomic Plan 2025 eine noch in der Umsetzung befindliche nationale Genommedizininitiative in unserem Nachbarland vor. Diese habe zum einen das Ziel, einen spezifischen Pfad zur Überführung der WGS in die Regelversorgung aufzuzeigen, zum anderen auch standortpolitisch einen Genommedizinsektor aufzubauen. Unter einem interministeriellen Steuerungsausschuss werden hierzu durch einen operationellen Ausschuss und dessen 14 Arbeitsgruppen die notwendigen Strukturen und Konzepte erarbeitet. Hierzu zählen ein Netzwerk von Sequenzierungsplattformen, eine zentrale Datenanalyse(CAD) sowie ein Zentrum für Referenzierung, Innovation, Expertise und Transfer (CRefiX). Die ersten beiden Sequenzierplattformen nehmen im Juni 2019 ihre Arbeit auf. Im Jahr 2025 will Frankreich in der Lage sein, 235.000 Genome pro Jahr zu sequenzieren. Es ist vorgesehen, dass der zentrale Datenanalyst auch die einheitliche Schnittstelle zur Forschungsdatennutzung bilden wird.

Aus der Praxis eines regionalen Genomic-Centers berichtete Dr. Valtteri Wirta vom Karolinska Institutet, Stockholm. Genomics Stockholm wurde im Jahr 2017 gegründet, um für die 2,7 Mio. Einwohnerinnen und Einwohner der Gesundheitsregion Stockholm regelhaft genomische Medizin anbieten zu können: “Die Genomsequenzierung heute ist umfassend, kostengünstig und schnell. Die Next-Generation-Sequenzierung ist damit bereit für den klinischen Einsatz in der Routineversorgung“, berichtete Wirta. Typischerweise sei mit einer Wartezeit zwischen Probenentnahme und klinischer Auswertung von bis zu 14 Tagen zu rechnen. Gerade für die schnelle Diagnose akuter neonataler Krankheitsbilder steht zusätzlich ein Eilverfahren mit einer Bearbeitungszeit von unter 48 Stunden zur Verfügung. Zur Unterstützung der Ergebnisinterpretation und Qualitätskontrolle kommen am Karolinska Institutet browser-basierte Tools zum Einsatz, die allesamt über github frei verfügbar sind.

Neben dem eigentlichen diagnostischen Test auf bekannte Krankheitsgene können die Patientinnen und Patienten auch einer explorativen Forschungsdatennutzung ihres Genoms zustimmen, um neue relevante Genmarker aufzuspüren. Die Ergebnisse werden routinemäßig in ClinVar und vergleichbare internationale Register eingestellt. „Für öffentlich finanzierte Genomforschung sollte die Nutzung öffentlicher Datenaustausch-Repositorien obligatorisch sein“, so Wirta. Für den weiteren Aufbau einer nationalen genomischen Medizin hat die schwedische Regierung das Programm „Genomic Medicine Sweden“ aufgelegt. In vier Arbeitsgruppen treiben die schwedischen Gesundheitsregionen dabei den regional einheitlichen Zugang zu genomischer Diagnostik voran. Sieben Genommedizinzentren sollen den „Maschinenraum“ des zukünftigen nationalen Netzwerkes bilden.

Dr. Valtteri Wirta

Dr. Valtteri Wirta vom Karolinska Institutet, Stockholm. © TMF e.V.

Prof. Han Brunner

Prof. Han Brunner vom Radboud UMC+ im niederländischen Nijmegen. © TMF e.V.

Gesamtge­nom­se­quenz­ier­ung mit positiver Kosten-Nutzen-Relation

Neben den großen Erfolgen der maßgeschneiderten Krebstherapie, bedeutet die WGS auch für Patienten mit seltenen Erkrankungen neue Chancen. Prof. Han Brunner vom Radboud UMC+ im niederländischen Nijmegen erklärte: “Tatsächlich sind seltene Erkrankungen in der Gesamtschau alles andere als selten. Allein in Deutschland sind mehr als fünf Millionen Menschen von einer der geschätzt mehr als 6.000 bekannten seltenen Erkrankungen betroffen.“ So gäbe es einerseits eine Reihe von Therapieansätzen, die ein „genetics first“ im Sinne einer personalisierten Medizin erforderten, aber auch grundsätzlich hätten die Betroffenen ein Recht auf eine individuelle Diagnosestellung, schon allein um die Wahrscheinlichkeit des familiären Wiederauftretens der Erkrankung abschätzen zu können. Dabei sei es wesentlich, organisatorische Abläufe für eine regelmäßige Re-Analyse der Genome zu etablieren, da jährlich neue Krankheitsgene entdeckt werden.

In der Diagnose seltener Erkrankungen können einer aktuellen Studie zufolge durch die WGS fast 30 Prozent der Betroffenen mit einer therapieleitenden Diagnose rechnen, wohingegen in der Kontrollgruppe nur knapp über sieben Prozent der Patientinnen und Patienten nach oftmals einer langen Odyssee einen treffenden Befund erhalten. „Zugleich handelt es sich bei der Next Generation-Sequenzierung um eine kostengünstige Strategie zur Diagnose seltener Krankheiten“, so Brunner. Tatsächlich lagen in einer weiteren Studie mit 150 Patientinnen und Patienten der Kinderneurologie die Diagnosekosten mit ca. 10.000 Euro unter den Aufwendungen für die Standarddiagnostik, bei einer gleichzeitig um den Faktor 4 höheren Erfolgsquote.

Zugleich handelt es sich bei der Next Generation-Sequenzierung um eine kostengünstige Strategie zur Diagnose seltener Krankheiten.

Julia Wilkins

Julia Wilkins, Imperial College Health Partners London. © TMF e.V.

Auch Julia Wilkins von Imperial College Health Partners London stellte in Berlin neueste Zahlen zum Systemnutzen der WGS bei der Behandlung seltener Erkrankungen vor. Die auf zehn Jahre rückwirkend angelegte longitudinale Studie griff auf Patienten- und Abrechnungsdaten der Krankenhäuser zurück. Eine Ausweitung auf die ambulante Versorgung, die Medikation und den pflegerischen Bereich ist für die Zukunft vorgesehen. In der Studie lagen die Kosten für die stationäre Behandlung von Kindern unter 10 Jahren mit seltenen Erkrankungen um mehr als 400% über dem Durchschnitt aller Behandlungen von stationär aufgenommen Kinder. Entscheidend für die individuelle Kostenstruktur der Behandlung seltener Erkrankungen sei dabei die zügige Diagnosestellung, zu der WGS entscheidend beitrage. So lägen nicht zuletzt wegen der hohen Aufwände für andere diagnostische Tests die Kosten vor einer korrekten Diagnosestellung, z.B. durch WGS, bis zum Faktor drei höher als danach.

Ein nationales Genommedizin-Programm für Deutschland

Ausgehend von den europäischen Beispielen diskutierten Expertinnen und Experten die Perspektiven einer genomischen Medizin in Deutschland. Dr. Saskia Biskup von der Praxis für Humangenetik Tübingen kritisierte, dass in Deutschland aufgrund des auf Teilsequenzierungen eingeschränkten Leistungskataloges gegenwärtig zu wenig Information für einen zu hohen Preis erkauft würden. Prof. Jutta Gärtner vom Universitätsklinikum Göttingen forderte ein deutschlandweites Qualitäts- und Indikationsmanagement für die Verordnung genomischer Diagnostik.

Neben praktischen Fragen der Vergütung und des Qualitätsmanagements für WGS stand die Forderung nach einem eigenen nationalen Genommedizin-Programm ganz oben auf der Agenda der Diskutanten. Prof. Jürgen Schäfer vom Universitätsklinikum Marburg erklärte: „Eine zentrale Institution der Genommedizin in Deutschland wäre ein großer Schritt nach vorne. Als Nachzügler sollten wir auf den Erfahrungen unserer Nachbarländer aufbauen.“ Prof. Hans-Hilger Ropers vom gastgebenden Max-Planck-Institut für molekulare Genetik forderte abschließend mit Blick auf die Implementierung einer Genommedizin im deutschen Gesundheitswesen, dass die WGS nach internationalem Vorbild auf wenige universitäre Standorte mit methodisch und technisch standardisierter Infrastruktur beschränkt werden müsse. „Nur so können wir eine Qualität und Kosteneffizienz erreichen, die internationalen Standards entspricht“, erklärte Ropers. „Weiterhin müssen die Daten in einer zentralen Datenbank gespeichert und verfügbar gemacht werden, die im Schulterschluss zwischen Forschung und Versorgung funktioniert. Das sind wir unseren Patienten schuldig.“ Als erster Schritt sollte nun – so die Anregung der Diskussionsrunde – möglichst rasch ein nationales Expertengremium gebildet werden, das unter Einbeziehung aller relevanten Stakeholder die Roadmap für ein nationales Genommedizin-Programm erarbeitet.

Das Publikum des TMF-Workshops „Genomic Medicine in Europe – Blueprints for Germany”

Publikum des TMF-Workshops „Genomic Medicine in Europe – Blueprints for Germany”. © TMF e.V.