Die TMF als Koordinatorin und Unterstützerin der genomischen Medizin
Genomdaten nutzen dem Einzelnen und der Gesellschaft
Inwieweit sind Genomdaten anders als andere medizinische Daten?
Genomdaten enthalten Informationen über das Erbgut einer Person oder über genetische Veränderungen in Zellen. Sie unterscheiden sich von anderen Daten dadurch, dass sie nur schwer anonymisiert werden können. Das bedeutet jedoch nicht, dass wir auf ihre Nutzung verzichten sollten. Es ist entscheidend, Patientinnen und Patienten umfassend über die potenziellen Risiken sowie die Vorteile der Arbeit mit Genomdaten aufzuklären. Insgesamt wird beim Thema Gesundheitsdaten – sowohl von der Wissenschaft als auch von der Politik – zu wenig erklärt. Meiner Ansicht nach sollte das Teilen von Daten selbstverständlich sein, da es nicht nur klinische Vorteile für die individuelle Patientin oder den individuellen Patienten bringt, sondern auch einen bedeutenden Nutzen für andere Betroffene und die Gesellschaft insgesamt bietet.
Wo stehen wir mit der genomischen Medizin heute bzw. wo wollen wir hin?
Personalisierte Medizin ist hierbei das zentrale Konzept. Bei Krebspatienten, die nach Ausschöpfung der leitliniengerechten Therapien ein Rezidiv erleiden, können wir im Rahmen molekularer Tumorboards eine Genomsequenzierung durchführen. Dadurch können Therapieoptionen identifiziert werden, die über die bisherigen Leitlinientherapien hinausgehen. Das stellt die individuelle Ebene dar. Wenn wir nun die genetischen Daten und den klinischen Verlauf für weiterführende Analysen zur Verfügung stellen, können auch andere, ähnliche Patientinnen und Patienten davon profitieren. Dabei könnten beispielweise neue genetische Tumorsignaturen entdeckt werden, die sowohl diagnostisch als auch therapeutisch genutzt werden können. Diese gesellschaftliche Dimension der personalisierten Medizin wird häufig unterschätzt, birgt jedoch enormes Potenzial für die Weiterentwicklung der Krebsmedizin.
In Deutschland gibt es jetzt Modellvorhaben im Bereich Krebserkrankungen und im Bereich Seltene Erkrankungen mit Unterstützung der Krankenkassen, die genau solche Szenarien erproben. Was sind die spezifischen Herausforderungen im Umgang mit diesen Daten?
Im Rahmen des Modellvorhabens nach § 64e SGB V ist es erforderlich, eine technische Infrastruktur bereitzustellen, die für die Verarbeitung großer Datenmengen ausgelegt ist. Wir reden von Whole-Exome- und Whole-Genome-Sequenzierung. Vor Ort müssen ausreichende Speicherkapazitäten vorhanden sein, ergänzt durch leistungsfähige Rechenressourcen, um diese Daten effizient zu verarbeiten.
Die nächste Herausforderung ist, die Genomdaten so aufzubereiten, dass sie die Klinikerinnen und Kliniker bei ihren Aufgaben optimal unterstützen. Hier spielen Visualisierungstechniken, häufig in Kombination mit Künstlicher Intelligenz (KI), eine entscheidende Rolle. Eine weitere Herausforderung ist die Kommunikation der zahlreichen beteiligten Fachdisziplinen untereinander. Dafür braucht es entsprechende Strukturen. Wir müssen auch das Personal im Umgang mit solchen hochkomplexen Daten schulen und weiterbilden. Es gibt viel zu tun.
Modellvorhaben nach § 64e SGB V
Die genomischen Modellvorhaben nach § 64e SGB V gehen zurück auf das Gesetz zur Weiterentwicklung der Gesundheitsversorgung (GVWG) von Juli 2021. Sie zielen darauf ab, durch Genomsequenzierung die Diagnostik und Therapiefindung bei Krebserkrankungen und bei Seltenen Erkrankungen zu verbessern. Grundlage ist jeweils eine umfangreiche, individuelle Genomsequenzierung. Für die Modellvorhaben wurde eine dezentralisierte Datenplattform aufgebaut, bei der klinische Daten in klinischen Datenknoten an verschiedenen Universitätskliniken und genomische Daten in sogenannten Genomrechenzentren an wissenschaftlichen Einrichtungen gespeichert werden. Die Datenspeicherung erfolgt streng pseudonymisiert. Dafür wurde am Robert Koch-Institut (RKI) eigens eine Vertrauensstelle eingerichtet.
Wie kann die TMF dabei unterstützen?
Wir brauchen für all diese Prozesse im Rahmen der Datenübermittlung, der Dokumentation und der Datenprozessierung Standards. Darin sehe ich eine große Aufgabe. Was die TMF in diesem Bereich leisten kann, hat die Medizininformatik-Initiative (MII) gezeigt. Ein weiterer wichtiger Aspekt ist Kommunikation: Es ist entscheidend, gemeinsam mit den beteiligten Forschungseinrichtungen zu erklären, wie und wofür die Daten genutzt werden.
Wir müssen mit einer Stimme sprechen, auch gegenüber der Politik, und das geht besser mit der TMF als Anker.
Ein dritter Punkt: die Harmonisierung innerhalb der Forschungslandschaft voranzutreiben. Neben dem Modellvorhaben nach §64e existieren noch weitere geförderte Projekte und Konsortien. Es gilt sicherzustellen, dass wir Synergien nutzen und nicht ständig das Rad neu erfinden. Auch zu dieser Harmonisierung innerhalb der Forschungslandschaft kann die TMF durch ihre Funktion als Austauschplattform für die Community einen großen Beitrag leisten bzw. leistet sie diesen schon.
Stichwort Harmonisierung: Wie weit fortgeschritten sind Sie damit schon? Gibt es über den Kerndatensatz der MII hinaus bereits konsentierte Standards?
Das ist auf jeden Fall ein prioritäres Thema. Im Konsortium Personalisierte Medizin für Onkologie (PM4Onco) arbeiten wir an den onkologischen Erweiterungsmodulen des Kerndatensatzes. Beim molekulargenetischen und pathologischen Befund gibt es da Vorarbeiten aus der MII. Wir haben das jetzt ergänzt um das Modul „Molekulares Tumorboard“. Das wird aktuell in Zusammenarbeit mit der TMF weiterentwickelt und für den FHIR-Standard aufbereitet.
Whole-Exome- und Whole-Genome-Sequenzierung
Die Whole-Genome-Sequenzierung (WGS) und Whole-Exome-Sequenzierung (WES) sind zwei wichtige, moderne Methoden der Analyse des Erbguts von menschlichen (und anderen) Zellen. Die beiden Verfahren unterscheiden sich im Umfang der Analysen, der entstehenden Datenmengen und der Kosten. Beim WGS wird das gesamte oder annähernd das gesamte Genom sequenziert, sowohl die Abschnitte, die für Eiweißmoleküle codieren, als auch nicht-codierende Abschnitte. Bei Menschen entspricht das rund 3 Milliarden Basenpaaren. Das WES beschränkt sich dagegen auf codierende Abschnitte des Genoms („Exons“). Das sind beim Menschen etwa 30 Millionen Basenpaare, entsprechend schneller und kostengünstiger ist das WES. Technisch unterscheiden sich die Verfahren nur unwesentlich: In beiden Fällen wird in der Regel eine robotische Sequenziertechnologie genutzt. In den meisten Fällen ist das das Next Generation Sequencing (NGS). Es gibt aber auch eine Reihe anderer Sequenziertechnologien.
Sie sagten eingangs, Genomdaten seien schlecht anonymisierbar. Wie geht man damit um?
Ein zentraler Punkt ist, dass die Patientinnen und Patienten freiwillig in die Genomdatennutzung einwilligen können. Damit diese Einwilligung informiert erfolgt, müssen sie nachvollziehen können, warum die Daten genutzt werden sollen und welche Vorteile sie selbst und andere daraus ziehen können. Der unter Koordination der TMF im Rahmen der MII entwickelte Broad Consent (breite Einwilligung) ist eine wichtige Komponente, weil er es ermöglicht, mit den Genomdaten über den individuellen Fall hinaus langfristig zu arbeiten. Dieses Thema bleibt dynamisch, da der Broad Consent kontinuierlich weiterentwickelt wird. In Freiburg arbeiten wir jetzt mit Version 1.7.2, die wir im Notfallzentrum pilotiert haben. Diese Version berücksichtigt sowohl industrielle Partner als auch Forschungsaktivitäten in Drittstaaten. Über das Thema Einwilligung hinaus ist es essentiell, die Daten nach dem aktuellen Stand der Technik abzusichern – wohlwissend, dass absolute Sicherheit nicht garantiert werden kann. Hier kommen auch Sanktionen ins Spiel: Missbrauch muss hart bestraft werden.
Wie sind Patientinnen und Patienten bei den genomischen Modellvorhaben eingebunden?
Ich denke, wir haben da ein tolles Modell entwickelt, übrigens auch wieder gemeinsam mit und unterstützt von der TMF. Wir haben bei genomDE von Anfang an Patientenvertreterinnen und -vertreter als Projektpartner eingebunden, die an den Sitzungen teilnehmen und aktiv in die Arbeitsgruppenarbeit einbezogen sind. Wir spielen immer zurück, was wir in den Arbeitsgruppen machen und was die Ziele sind. Die TMF hat auch einen Film über genomDE realisiert, der ein wichtiger Bestandteil unserer Kommunikationsarbeit geworden ist.
Ein Blick in die Zukunft: Wie wird sich das Feld der Biodatennutzung weiterentwickeln?
Ganz wichtig ist, dass wir nie die Biodaten allein ansehen bzw. nutzen, sondern diese immer in Verbindung mit klinischen Daten bringen. Interessant sind da außer den Genomdaten zum Beispiel die Mikrobiomdaten. Das Mikrobiom bezeichnet die Gesamtheit aller Mikroorganismen wie Bakterien, Pilze und Viren, die in einem bestimmten Lebensraum, beispielsweise im menschlichen Körper, leben und dessen Gesundheit und Funktion wesentlich beeinflussen. Dabei spielt das Mikrobiom für viele Erkrankungen eine größere Rolle als lange Zeit gedacht wurde. Dann gibt es den Begriff Metabolom, der die Gesamtheit aller Eiweißstoffe des Zellstoffwechsels beschreibt. Das ist eine Teilmenge der Proteomics, also der Gesamtheit aller Eiweißstoffe. Erste Analysen aus diesem Bereich fließen schon heute in die molekularen Tumorboards ein, aber wir kratzen da noch an der Oberfläche. Da wird noch viel mehr kommen.
Weiterführende Informationen
Über die Interviewpartnerin
Prof. Dr. Dr. Melanie Börries ist Leiterin des Instituts für Medizinische Bioinformatik und Systemmedizin am Universitätsklinikum Freiburg. Sie ist stellvertretende TMF-Vorsitzende und Mitglied im Steuerungsgremium von genomDE.