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Evidenz­basierte Diag­nose für bisher unbe­kannte Krankheiten ermöglichen

Konzept einer Genotyp-Phänotyp-Datenbank für seltene Erkrankungen in TMF-Workshop am Rande der Jahrestagung der Deutschen Gesellschaft für Humangenetik vorgestellt

Publikum Jahrestagung der deutschen Gesellschaft für Humangenetik 2014

© TMF e.V.

Eine Datenbank, die Genotypen und Phänotypen bisher unbekannter, teilweise extrem seltener Erkrankungen systematisch erfasst, wäre ein nützliches diagnostisches Tool und eine wertvolle wissenschaftliche Ressource. Sie würde die einzigartige Chance bieten, einen oder mehrere gleich gelagerte Fälle zu finden. In einem TMF-Workshop diskutierten am 19. März 2014 am Rande der Jahrestagung der Deutschen Gesellschaft für Humangenetik in Essen mehr als 100 Forscher, Ärzte und Vertreter von Gendiagnostiklaboren über das dort erstmals vorgestellte Konzept einer nationalen Genotyp-Phänotyp-Datenbank, die sich auch in analoge internationale Vorhaben einbinden ließe.

Regelmäßig stellen sich in humangenetischen Praxen Patienten mit seltenen Erkrankungen zur Diagnostik vor, bei denen die Untersuchung ein bisher weltweit unbeschriebenes Gen oder eine unbekannte Mutation in einem Krankheitsgen ergibt, die die Erkrankung vermutlich verursacht. In drei Viertel der Fälle kann die genetische Variante allerdings hinsichtlich ihres diagnostischen Werts nicht abschließend beurteilt werden. Dies ist erst möglich, wenn sie in mindestens einem weiteren gleichgelagerten Fall nachgewiesen ist.

Um die Auflösung solcher „schwebender“ Beurteilungen („in limbo“) zu erleichtern, sollen in der aufzubauenden, speziellen Genotyp-Phänotyp-Datenbank neue verdächtige Gene, neue Mutationen oder neue Phänotypen eingetragen werden. Ziel ist es, durch Abgleich neu hinzukommender in limbo-Eintragungen diesen Schwebezustand aufzulösen, so dass die jeweilige kausale Genotyp-Phänotyp-Beziehung dann in eine der bestehenden Datenbanken für validierte genetische Varianten überführt werden kann und dort für die allgemeine Diagnostik zur Verfügung steht. Dies berichtete Prof. Dr. Thomas Wienker (Max-Planck-Institut für Molekulare Genetik, Berlin), der das Konzept für die neue transitorische Genotyp-Phänotyp-Datenbank vorstellte. 
  

Viele genetische Varianten sind noch nicht validiert

Eine Übersicht über die für Diagnostikzwecke vorhandenen humanen Gendatenbanken gab Dr. Thomas Bettecken (MPI für Psychiatrie). Er wies darauf hin, dass es keinen „One-Stop-Shop“ gibt, sondern dass immer in mehreren Datenbanken recherchiert werden muss. Ein Problem sei jedoch, dass sich viele Varianten bzw. Mutationen noch „in Auswertung“ befänden: Sie werden zwar verdächtigt, lassen sich aber noch nicht abschließend interpretieren und sind deshalb nicht in zur Diagnostik verwendeten Datenbanken verzeichnet. Die Zahl der Varianten „in Auswertung“ wachse zudem stark mit zunehmender Anwendung des Next-Generation-Sequencing (NGS).

Die nachhaltige Finanzierung einer solchen Datenbank sollte von Anfang an mit bedacht werden. Darauf wies Dr. Frank G. Schacherer (CTO Biobase GmbH) hin: „Die 10-Jahres-Überlebensrate von biomedizinischen Ressourcen liegt bei unter 30 Prozent.“ Bei allen Finanzierungsmodellen, sei insbesondere der Wert für den „Kunden“ – hier die Patienten, die humangenetische Beratung, Kliniker und Forscher – ausschlaggebend.
  

Rohstoff des 21. Jahrhunderts

„Daten sind der Rohstoff des 21. Jahrhunderts“ – mit dieser Aussage begann Prof. Dr. Ignaz Wessler (Arbeitskreis der medizinischen Ethikkommissionen) seinen Vortrag zum Thema „Ethische Fragen der Katalogisierung genomischer Varianten des Menschen“. Insbesondere diskutierte er das Problem der Zufallsbefunde bei NGS-Untersuchungen und wie mit der informationellen Selbstbestimmung der Patienten umzugehen sei.

Dr. Thilo Weichert (Unabhängiges Landeszentrum für Datenschutz Schleswig-Holstein) bewertete die Analyse, Katalogisierung und Nutzung genetischer Daten aus Sicht des Datenschutzes. Die Besonderheit genetischer Daten läge in ihrem hohen Re-Identifizierungsrisiko, so dass eine kontrollierte Datentreuhänderschaft und Pseudonymverwaltung zentrale Herausforderungen seien. Daher plädierte Weichert vor allen Dingen für Transparenz im Verfahren beim Aufbau einer solchen Datenbank und mahnte eine enge Begleitung einer solchen Initiative durch Datenschutzkompetenz an. 
  

Aufbau einer Datenbank zur Klärung von in limbo-Varianten wäre sinnvoll

In der anschließenden Podiumsdiskussion unter der Leitung von PD Dr. Arne Pfeufer (Helmholtz-Zentrum München) bestand Einigkeit, dass der Aufbau einer solchen Datenbank für Patienten mit seltenen Erkrankungen sehr wertvoll sein könnte. Weiterhin wurde klar, dass der Aufbau der Datenbank zwar in Deutschland starten sollte, auch um die spezifische deutsche Datenschutz- und Ethikgesetzgebung von Anfang an mit zu berücksichtigen, dass jedoch die nationale Ebene nicht ausreichend sei. Es wurde ausdrücklich betont, dass das Gendiagnostikgesetz einem solchen Datenbankkonzept nicht entgegenstehen würde.

Abschließend rief Prof. Dr. Michael Krawczak (Institut für Medizinische Informatik und Statistik des Universitätsklinikums Schleswig-Holstein/Vorstandsvorsitzender der TMF) die Teilnehmer des Workshops dazu auf, sich an der weiteren Entwicklung des Konzepts einer transitorischen nationalen Genotyp-Phänotyp-Datenbank zu beteiligen. Die TMF stehe bereit, eine solche Aktivität zu begleiten und sie gegebenenfalls um zusätzliche Anforderungen aus der NGS-gestützten Diagnostik und Forschung zu erweitern.

Podiumsdiskussion TMF Workshop Jahrestagung der deutschen Gesellschaft für Humangenetik 2014

In der abschließenden Podiumsdiskussion bestand Einigkeit, dass der Aufbau einer solchen transitorischen Genotyp-Phänotyp-Datenbank für Patienten mit seltenen Erkrankungen sehr wertvoll sein könnte. An der Podiumsdiskussion nahmen teil (v.l.n.r.): Dr. Cornelia Zeidler (Medizinische Hochschule Hannover), Prof. Dr. Jörg Schmidtke (Medizinische Hochschule Hannover), Prof. Dr. Thomas Wienker (MPI für Molekulare Genetik,), Prof. Dr. André Reis (Universitätsklinikum Erlangen), PD Dr. Arne Pfeufer (Helmholtz-Zentrum München), Dr. Thilo Weichert (Unabhängiges Landeszentrum für Datenschutz Schleswig-Holstein), Dr. Frank G. Schacherer (CTO Biobase GmbH), Prof. Dr. Ignaz Wessler (Arbeitskreis medizinischer Ethikkommissionen). © TMF e.V.