Interview

„Digitalisierung im Gesundheitswesen hat frischen Schwung bekommen“

Interview mit Sebastian C. Semler (TMF) zur TELEMED 2017

Sebastian C. Semler

Sebastian C. Semler. © TMF e.V.

"Die Digitalisierung im Gesundheitswesen hängt von der Akzeptanz beim Bürger und anerkannten Grundsätzen bei allen Stakeholdern und Akteuren ab", betont Sebastian C. Semler anlässlich der TELEMED, die am 6. und 7. Juli 2017 in Berlin stattfindet. Im Interview erklärt er, wie die Digitalisierung im Gesundheitswesen aktuell vorangetrieben wird und welche Rolle die TELEMED in dieser Entwicklung spielen kann.

Die TELEMED findet im Vorfeld der anstehenden Bundestagswahl statt. Man hat den Eindruck, die Digitalisierung im Gesundheitswesen nimmt gerade jetzt richtig Fahrt auf. Ist der Eindruck richtig und woran mag das liegen? 


Absolut richtig, die Digitalisierung im Gesundheitswesen hat gerade frischen Schwung bekommen. Die Ereignisse der letzten Wochen, insbesondere der Digitalgipfel der Bundesregierung, haben das eindrucksvoll gezeigt. Das BMG hat mit dem E-Health-Gesetz Grundlagen gelegt. Die aktuellen Diskussionen zur Umsetzung der EU-Datenschutzgrundverordnung sowie die IT-Sicherheitsgesetzgebung haben vor Augen geführt, dass die Digitalisierung im Gesundheitswesen nicht mehr stiefmütterlich behandelt werden kann. Auch wird man zunehmend registriert haben, wie europäische Nachbarn in Sachen Digitalisierung an uns vorbeiziehen. Es ist daher unvermeidlich, dass wir die Stagnation in Sachen Digitalisierung überwinden.

Mehrere Ministerien – das BMG und das BMBF sowie auch das BMWi – haben die Wichtigkeit des Themas erkannt und sich große Vorhaben für die Zukunft auf die Fahnen geschrieben. Erfreulich ist, dass hierbei auch die medizinische Forschung mit adressiert wird und dass der universitäre Sektor als wichtiger Player bei der Digitalisierung im Gesundheitswesen wahrgenommen wird. Man darf Einiges erwarten für die nähere Zukunft – mit viel Rückenwind kann nun Fahrt aufgenommen werden.
 

Auch in das Thema Elektronische Patientenakten scheint frischer Wind zu kommen. Welche Entwicklungen gibt es hier?


In der Tat gibt es hier zwei wesentliche Entwicklungen: Erstens sitzt die Gematik intensiv daran, gemäß ihrem Auftrag qua E-Health-Gesetz die Rahmenbedingungen für die elektronische Patientenakte (ePA) nach §291a SGB V und das elektronische Patientenfach (ePF) bis 2018 zu definieren. Es wird spannend sein abzuwarten, ob hieraus auch ein Impuls zur semantischen Standardisierung der Inhalte dieser Akten resultiert – und ob der hierfür gedachte Mechanismus des Interopberabilitätsverzeichnisses nach § 291e SGB V „vesta“, das vor wenigen Tagen gestartet wurde, funktioniert.

Zum anderen sind zurzeit mindestens zwei große Krankenkassen mit Projekten unterwegs, für ihre Versicherten Angebote für eine persönliche Patientenakte aufzubauen. Diese Vorhaben sind mit großem Interesse zu verfolgen, da ihnen zuzutrauen ist, das bisherige Dilemma vieler Online-Aktenangebote – mangelnder Marktzugang zum Bürger, mangelndes Geschäftsmodell und Probleme bei der Skalierung – erfolgreich aufzulösen. Wir freuen uns, einen Beitrag aus Kassensicht im TELEMED-Programm diskutieren zu können.

Und nicht zuletzt hat sich Ende April die Hochschulmedizin zu Wort gemeldet: Basierend auf der eminent bedeutsamen BMBF-geförderten Medizininformatik-Initiative, die in den kommenden Jahren wichtige Grundlagen legen wird zum Datenzugang und zur Datenstandardisierung, soll eine forschungskompatible vernetzte elektronische Patientenakte der Universitätsmedizin aufgebaut werden. Auch diese Vision und der Weg dahin wird im TELEMED-Programm diskutiert.
 

Die diesjährige TELEMED lenkt den Blick besonders auf das Zusammenspiel von Forschung und Versorgung und die Bedeutung der gemeinsamen Nutzung von Gesundheitsdaten. Welche Erkenntnisse erwarten Sie aus der Tagung?


Dieses Thema ist über viele Jahre unterbelichtet geblieben. In den vergangen Jahren gab es einige erste Studien hierzu auf Bundes- und Länderebene, von denen einige im Programm vorgestellt werden. Grundsätzlich muss man konstatieren, dass wir sehr viele Informationen und Daten im Gesundheitswesen sammeln, speichern und vorhalten, aber zu wenig zum Patientenwohl und zur Weiterentwicklung des Gesundheitssystems nutzen. Insbesondere die übergreifende Auswertung verschiedener Datenkörper über Sektoren, Meldeverfahren und Standorte hinweg fällt nach wie vor sehr schwer. Es gibt organisatorische, technische und rechtliche Hürden. Diese zu benennen und Lösungswege aufzuzeigen, aber auch Rahmenbedingungen hierfür einzufordern, wird ein Resultat der TELEMED sein können. Wichtige Initiativen auf Landes- und Bundesebene tragen dazu bei, die Verzahnung von Forschung und Patientenversorgung und die hierfür notwendige Integration von Daten voranzutreiben.
 

Telemedizinprojekte werden gerade auch in den Ländern vorangetrieben. Der Fokus der diesjährigen TELEMED liegt auf Projekten in Bayern. Was ist dort besonders?


Die Veranstalter der TELEMED freuen sich, die Tagung zum dritten Mal nicht nur in einer Landesvertretung durchzuführen, sondern die Veranstaltung auch in Partnerschaft mit dem betreffenden Bundesland auszurichten und einen inhaltlichen Fokus auf die Projekte zur Telemedizin und Gesundheitstelematik in diesem Land zu richten. Nach NRW und Niedersachsen steht diesmal Bayern im Mittelpunkt – und das ist zeitlich sehr passend, da das Land Bayern mit seinem Vorhaben, mit einem Gesundheitsdatenzentrum und einer elektronischen Patientenakte mehr für den Datenzugang seiner Bürger und für die Datennutzung zum Wohle der bayerischen Gesundheitsversorgung zu tun, aktuell wichtige Schritt unternimmt. Auch darüber hinaus sind bayerische Standorte, Verbände und Unternehmen an vielen interessanten Telemedizin-Projekten beteiligt – unter anderem auch an der erwähnten Medizininformatik-Initiative des BMBF –, sodass wir spannende Einblicke in die dortigen Entwicklungen erwarten dürfen.
 

Welchen Schub nimmt die TELEMED selbst für die Zukunft mit?


Insgesamt müssen wir den Dialog zwischen Fachlichkeit, Politik und Bürger unter Zusammenführung von Bund und Ländern wieder stärken und ausbauen. Digitalisierung im Gesundheitswesen hängt auch von der Akzeptanz beim Bürger und anerkannten Grundsätzen bei allen Stakeholdern und Akteuren ab. Neben einer Plethora von Partikularveranstaltungen benötigen wir meiner Meinung auch noch mehr übergreifende Fachdiskussion, zu welcher sicherlich die sehr erfolgreiche conhIT ihren Beitrag leistet, dies aber inhaltlich nicht alleine abdecken kann. Wir müssen auch nochmal über Formate nachdenken. Wir können nicht nur bezüglich ELGA, sondern auch hierzu gewinnbringend zum österreichischen Nachbarn blicken, der mit dem E-Health Summit Austria ein sehr gelungenes Format gefunden hat. Ich bin zuversichtlich, dass die TELEMED zu dieser Entwicklung des Dialogs beitragen kann. 

 

Sebastian Claudius Semler ist seit 2004 Geschäftsführer der TMF.  

Das Interview führte Antje Schütt.