Kongress & Tagung

Europäischer Gesundheits­datenraum: Perspektiven einer grenzüberschrei­tenden Gesundheitsversorgung und Gesundheitsdatennutzung

4. Nationales Digital Health Symposium 2022

Kaiserin-Friedrich-Stiftung, Berlin
10:00 bis 17:00 Uhr
Nationales Digital Health Symposium 2022

Das Nationale Digital Health Symposium am 06. Dezember 2022 setzte sich mit den Chancen und Herausforderungen einer grenz­über­schreitenden Gesund­heits­daten­nutzung im Rahmen eines Europäischen Gesund­heits­daten­raums auseinander. Expertinnen und Experten aus Politik, Gesundheit und Forschung diskutierten auf der Konferenz, wie eine grenz­über­schreitendende Gesund­heits­ver­sorgung und Datennutzung aussehen kann. Und was das für die Vernetzung und die Anschlussstrukturen in Deutschland bedeutet. Auch die Akzeptanz und der realistische Nutzen für die Gesund­heits­ver­sorgung, Produktentwicklung und Gesund­heits­system­ent­wick­lung standen zur Diskussion.

Begrüßung und Einführung

Der europäische Raum für Gesundheitsdaten (European Health Data Space – EHDS) soll einen kohärenten, vertrauenswürdigen und effizienten Rahmen für die Nutzung von Gesundheitsdaten für Forschung, Innovation, Politik und Regulierung innerhalb der Europäischen Union schaffen. Mit dem EHDS verbunden ist die Hoffnung auf eine bessere Versorgungs- und Behandlungsqualität sowie einen einfacheren Datenaustausch in Europa, von dem auch die Forschung profitiert, erläuterte Sebastian C. Semler, TMF-Geschäftsführer in seinem Eingangsstatement.

Keynote: EHDS und EHDS2 Pilot

Mario Jendrossek vom französischen Health Data Hub pilotiert derzeit anhand mehrerer Use Cases bis Ende 2024 einen Europäischen Gesundheitsdatenraum.

Session 1: Europäischer Gesund­heitsdatenraum: Grenzüber­schreitendende Gesundheits­versorgung

  • Dr. Stephan Schug (Deutsche Gesellschaft für Gesundheitstelematik e.V. (DGG), Vorsitzender)
  • Nino Mangiapane (Kassenärztliche Bundesvereinigung (KBV), Digitale Strategie und Koordination im Stabsbereich Politik, Strategie und politische Kommunikation)
  • Dr. med. Leonor Heinz (DESAM-ForNet, Leiterin der Koordinierungsstelle)

Der Europäische Gesundheitsdatenraum (EHDS) bietet große Chancen für Forschung und Versorgung, da ein innereuropäischer Datenaustausch für eine bessere Gesundheitsversorgung und eine Nachnutzung von Gesundheitsdaten für die Forschung möglich werden sollen. Der EHDS soll damit nicht nur die grenzüberschreitende Versorgung, sondern auch die Forschung und den Datenaustausch europaweit verbessern. Er besteht im Wesentlichen aus zwei Säulen: der EHDS 1 regelt die Fragestellungen rund um die grenzüberschreitende Gesundheitsversorgung der Bürgerinnen und Bürger, der EHDS 2 regelt die Sekundärnutzung von Daten für Forschung und Innovation. „Der EHDS kommt nicht einfach aus dem Nichts“, fasst Dr. Stephan H. Schug, DGG e.V., zusammen. „Trotz Mitgestaltung Deutschlands bei den vertraglichen und Interoperabilitätsvorgaben, wurden wir von vielen unserer Anrainerstaaten inzwischen abgehängt“, so Schug. Nationale Kontaktstellen haben beispielsweise Frankreich, die Niederlande und Luxemburg eingerichtet. Leonor Heinz, Leiterin der Koordinierungsstelle von DESAM-ForNet, forderte, dass der EDHS partizipativ mit allen Stakeholdern entwickelt werden müsse. Eine wichtige Anschlussstruktur für den EHDS stellt die elektronische Patientenakte (ePA) dar. „Bei der Weiterentwicklung der elektronischen Patientenakte im Kontext des EHDS muss der Beitrag, den sie für eine unmittelbare Verbesserung der Versorgung leisten kann, konsequent in den Mittelpunkt gestellt werden“, fordert Nino Mangiapane von der Kassenärztlichen Bundesvereinigung (KBV) auf dem Symposium.

Session 2: Vernetzung und An­schlussstrukturen in Deutschland: Aufgaben, Rollen und Strukturen

  • Ministerialdirigent Michael Heyn (Der Bundesbeauftragte für Datenschutz und Informationsfreiheit (BfDI), Leiter Abteilung I Grundsatz, Verwaltung des Bundes, Internationales)
  • Ministerialrat Dr. Georg Münzenrieder (Bayerisches Staatsministerium für Gesundheit und Pflege,  Referatsleiter Referat 12 – Grundsatzangelegenheiten der Digitalisierung in Gesundheit und Pflege, Zukunfts- und Innovationsprojekte)
  • Sebastian C. Semler (TMF - Technologie- und Methodenplattform für die vernetzte medizinische Forschung e. V., Wissenschaftlicher Geschäftsführer)

In welchem Verhältnis die Dienste des EHDS zu hiesigen Diensten und Aufgaben stehen, erläuterten die Referentinnen und Referenten in Session 2. Außerdem wurde das Verhältnis zwischen der kommenden EHDS-Gesetzgebung zur DSGVO und zu nationalen Datenschutzgesetzen erörtert. Deutlich wurde, dass der EHDS eine Verordnung ist, die an die nationalen Bedingungen angepasst werden muss. Dass dafür eine zentrale Datenbank geschaffen werde, in die alle Daten einfließen, hält Ministerialrat Dr. Georg Münzenrieder vom Bayerischen Staatsministerium für Gesundheit und Pflege für illusorisch. Es gebe bereits viele Datensilos, die miteinander vernetzt werden müssten, so Münzenrieder. Sebastian C. Semler teilt diese Einschätzung und fordert, dass es bestimmte Knoten geben müsse, die die verteilten Datenbestände miteinander verknüpfen. „Wir müssen uns dringend um das Thema Data Linkage kümmern, damit der EHDS überhaupt funktioniert“, fordert Semler. Das Konzept der Einwilligungsfreiheit im EHDS stehe außerdem in krassem Kontrast zu derzeitigen Regelungen in Deutschland. „Das finde ich eine entscheidende Frage.“

Session 3: Nutzung der Daten für die Gesundheits­versorgung in Deutsch­land und Europa

Der EHDS soll einen echten Binnenmarkt für digitale Gesundheitsdienste und -produkte fördern. Dabei steht die Frage im Raum, welchen Nutzen man realistisch vom EHDS für die Gesundheitsversorgung erwarten kann.
Pia Maier vom Medizintechnikhersteller Medtronic betonte, dass strukturierte Daten aus ganz Europa wünschenswert wären, um den Forschungsstandort Deutschland wieder wettbewerbsfähig zu machen. Außerdem brauche es eine bessere gesellschaftliche Auseinandersetzung, wofür Gesundheitsdaten genutzt werden können, um dann zu einem gesellschaftlichen Konsens zu gelangen. „Wir müssen alle mitnehmen und gut darstellen, wofür Datennutzung sinnvoll ist“, so Maier. Dennis Geisthardt vom bvitg unterstrich, dass Akzeptanz bei allen Stakeholdern ein ganz wesentlicher Faktor für den Erfolg des EHDS sei. „Wir müssen Mehrwerte besser quantifizieren und kommunizieren“, sagte Geisthardt. Bernd Greve, Geschäftsführer von mio42, betonte, dass wir ohne strukturierte und kodierte Daten die Potentiale weder für die Versorgung noch für die Sekundärnutzung heben werden. „Für den EHDS und auch für die Sekundärnutzung ist die Verwendung von internationalen Terminologien erforderlich“, so Greve. Die Umsetzung könne aber nur Schritt für Schritt erfolgen. Hier sollte die Politik mit dem Ziel der sinnvollen Versorgungsverbesserung Use-Cases priorisieren.

Session 4: Akzeptanz des Euro­päischen Gesundheits­datenraums

  • Dr. Martin Danner (BAG Selbsthilfe e.V., Bundesgeschäftsführer)
  • Marie Zahout (Tagesspiegel Background Gesundheit & E-Health, Redakteurin)
  • Marcel Weigand (Unabhängige Patientenberatung Deutschland, Leiter des Bereichs „Digitale Transformation“)
  • Stefan Höcherl (gematik, Leiter Strategie & Standards)

Aus der Perspektive der Tagesspiegel-Redakteurin Marie Zahout geht es erstmal vor allem um Aufklärung: „Welche Daten werden gesammelt, was passiert damit?“ Marcel Weigand von der Unabhängigen Patientenberatung Deutschland sieht große Vorteile und Chancen im EHDS. „Es ist gut, dass die Vorschläge der EU-Kommission Deutschland nun mächtig unter Druck setzen. Nach zwei Jahrzehnten erfolgloser Digitalisierungsversuche seitens sich gegenseitig blockierender Selbstverwaltung und abstruser Datenschutzvorgaben kommt nun Bewegung in die Digitalisierung der Gesundheitsdaten.“ Dr. Martin Danner, Bundesgeschäftsführer der BAG SELBSTHILFE e.V., forderte vor allem, dass Patientinnen und Patienten in die Gestaltung von Digitalisierungsprogrammen einbezogen werden. Das sei die Grundlage zur Schaffung von Akzeptanz bei Patentinnen und Patienten. Wichtig sei jedoch, dass in Deutschland jetzt gehandelt und sichere, datenschutzkonforme Infrastrukturen entwickelt werden. Darin sind sich die Akteure aus Forschung, Versorgung, Industrie und Politik einig. „Die EU-Kommission hat mit der Verordnung zum EHDS einen mutigen Aufschlag gemacht. Nun haben wir einen hohen Veränderungsdruck, den EHDS auszugestalten“, sagte Stefan Höcherl von der gematik.

Session 5: Datennutzung und Rechts­sicher­heit: Die Normen­hierarchie­frage

  • Prof. Dr. Georg Schmidt (Technische Universität München, Vorstandsmitglied AK EK)
  • Dr. Thilo Weichert (Netzwerk Datenschutzexpertise, Jurist, Politologe und ehem. Datenschutzbeauftragter von Schleswig-Holstein)

Prof. Dr. Georg Schmidt, Vorstandsmitglied des AK EK, und Dr. Thilo Weichert, Jurist, Politologe und ehem. Datenschutzbeauftragter von Schleswig-Holstein, diskutierten in Session 5 die datenschutzrechtliche Perspektive der Sekundärnutzung von Gesundheitsdaten. Der bestehende und geplante Regelungsrahmen – europäisch und national – ist einerseits überkomplex und schränkt multizentrische Forschung stark ein. Zum anderen seien die bisher geplanten Regelungen aber unterkomplex, weil sie keinerlei Vorgaben enthalten, wie ein grundrechtskonformer Prozess der Abwägung zwischen öffentlichen Nutzungsinteressen und Schutzinteressen der Betroffenen sichergestellt werde.

Session 6: Interoperabilität

Stefan Höcherl von der gematik gab abschließend in Session 6 einen Ausblick auf die Interoperabilitäts-Roadmap der gematik, welche es sich zum Ziel gesetzt hat, dieNutzerorientierung in den digitalen Anwendungen des Gesundheitswesens zu stärken und die Umsetzung zu beschleunigen. Der erste Entwurf der IOP-Roadmap wurde kürzlich vorgestellt und diskutiert. Nun geht sie in die Kommentierungsphase und wird weiter ausgebaut.

Schlusswort: Fazit der Ver­anstaltung

Die Akteure aus Forschung, Versorgung, Industrie und Politik waren sich einig, dass in Deutschland jetzt gehandelt werden müsse. Es sollten sichere, datenschutzkonforme Infrastrukturen entwickelt werden, die eine Anschlussfähigkeit an den EHDS garantieren. Insbesondere in den Bereichen Datenschutz, Patienteneinwilligungen, Datenverknüpfbarkeit und Akzeptanz gilt es nachzuziehen und gemeinsam mit allen Stakeholdern den nationalen Rahmen zu gestalten.