Digitalisierung und medizinische Ausbildung
Wie optimal vorbereiten auf eine datengetriebene Medizin?
Warum müssen wir uns in Zeiten der Digitalisierung auch über die medizinische Ausbildung Gedanken machen?
Fischer: Die Digitalisierung durchdringt alle Lebensbereiche des Menschen, und damit auch die medizinische Ausbildung. Dabei geht es zum einen um die inhaltliche Ebene: Was muss ein künftiger Arzt, eine künftige Ärztin über neue digitale Werkzeuge wissen? Was verstehen im Umgang mit Daten und mit digital vorinformierten Patienten? Die zweite Ebene ist eine eher operationale: Wie können wir die neuen Tools, die wir haben, für die Lehre und die Ausbildung nutzen? Hier stehen wir noch ganz am Anfang.
Wissing: Ein dritter Aspekt betrifft die Ausbildung des Nachwuchses für die datengetriebene Forschung. Das gilt nicht speziell für, aber auch für Medizinerinnen und Mediziner. Und diese müssen in gewissem Umfang bereits im Studium mit diesem Komplex in Kontakt kommen.
Wie verändert sich das Anforderungsprofil für Ärzte durch die Digitalisierung?
Wissing: Wir erleben heute eine enorme Dynamik sowohl bei der Weiterentwicklung des medizinischen Wissens als auch der digitalen Tools. Damit Schritt zu halten, ist häufig nicht leicht. Umso wichtiger ist es daher, dass wir die Grundlagen für digitales Arbeiten bereits im Studium legen und die entsprechenden Kompetenzen vermitteln. Nur ein Beispiel: Angehende Ärztinnen und Ärzte sollten befähigt werden, KIgestützte Hilfsmittel im Sinne der Patientinnen und Patienten zu nutzen und gleichzeitig kritisch mit der Unsicherheit umzugehen, die diese Tools zwangsläufig mit sich bringen.
Fischer: Früher diffundierte das Wissen von den Lehrenden über die Studierenden in die Versorgung, wo dann das praktische Rüstzeug vermittelt wurde. Das hat sich deutlich geändert. Wir brauchen eine gute Wissensbasis für unsere Studierenden und eine frühe Verknüpfung mit der praktischen Anwendung des Wissens. Wir müssen vermitteln, was gute Quellen sind und wie damit effizient in der ärztlichen Praxis im Kontext von Digitalisierung und bei der Vermittlung von Digitalkompetenzen gearbeitet werden kann.
Wird das im Studium so schon vermittelt?
Wissing: Ja, wir sind auf einem guten Weg, die Chancen der Zukunft zu nutzen. Als MFT haben wir uns mit Digitalisierung und Digitalkompetenzen im Rahmen der Überarbeitung des Nationalen Kompetenzbasierten Lernzielkatalogs Medizin (NKLM) intensiv auseinandergesetzt. Dabei haben wir stark von den in der MII und der TMF, bei der wir Mitglied sind, vorhandenen Expertisen profitiert. Im NKLM werden die Kompetenzen, welche durch die Neuerungen im Rahmen der Digitalisierung notwendig sind, ganz konkret benannt: von der „Haltung“ gegenüber einem informierten Patienten bis hin zum Umgang mit KI-Tools, z. B. in der Radiologie. Am Ende müssen die Fakultäten dies vor Ort umsetzen, wir können nur eine Vorlage liefern.
Die Digitalisierung verändert auch die Praxis der Ausbildung durch neue Tools und Vermittlungsmethoden. Was passiert da schon, und gibt es da Überschneidungen in Richtung digitale Versorgungsinfrastrukturen?
Wissing: Es gibt noch keine flächendeckenden Lösungen, aber viele Pilotprojekte. Einige Standorte nutzen zum Beispiel Lehr-KIS, mit denen Studierende mit großen Freiheitsgraden, aber ohne reale Patientendaten, arbeiten können. Das kann sehr hilfreich für das spätere berufliche Leben sein. Darüber hinaus gibt es aufwändige, teils Avatar-gestützte Tools, die bestimmte Gesprächs- oder Versorgungssituationen simulieren. Von einer Flächendeckung sind wir bei solchen, oftmals aufwändigen Anwendungen aber noch weit entfernt.
Die Digitalisierung führt auch zu neuen Betätigungsfeldern für Ärztinnen und Ärzte, und die datenbasierte medizinische Forschung ist eines davon. Inwieweit ist das „ausbildungsrelevant“ oder sollte es sein?
Fischer: Das ist auf jeden Fall relevant. Data Scientists allein reichen für die datenbasierte medizinische Forschung nicht aus. Es braucht auch ärztliche Kompetenz, um sinnvolle Forschungsfragen zu stellen, um Algorithmen zu verstehen, die Daten zu interpretieren, oder um die geeigneten Daten zu selektieren oder überhaupt erst einmal zu erhalten.
Data Scientists allein reichen für die datenbasierte medizinische Forschung nicht aus.
Wie viel von dem Kompetenzaufbau in diesem Bereich kann im Studium stattfinden?
Wissing: Die Grundlagen sollten im Studium vermittelt werden. Wir arbeiten aktuell daran, über die Änderung der Approbationsordnung, die weiterhin bei Bund und Ländern festhängt, das Thema Evidenzbasierung und Wissenschaftlichkeit regelhaft und tiefer in der Ausbildung zu verankern. Dazu gehört u. a. ein Verständnis dafür, welche Stärken und welche Schwächen Daten haben, die im Versorgungsgeschehen erhoben werden. Die Vertiefung dieses Wissens muss in der Folge dann im Rahmen forschender Tätigkeiten stattfinden. Das können wir nicht alles ins Studium packen.
Fischer: Es ist auch wichtig, zu verstehen, warum Daten eine gewisse Strukturierung und Qualitätssicherung brauchen. Auch das müssen wir vermitteln. An vielen Fakultäten bilden sich übrigens sehr aktive freiwillige studentische Gruppen, die das Thema KI in der klinischen Medizin bearbeiten. Das sind die Leute, die später die „Übersetzerfunktion“ an der Schnittstelle von klinischer Versorgung, Forschung und Informatik übernehmen werden. Von denen brauchen wir viel mehr und auch entsprechende strukturierte und vertiefende Lehrangebote an den Medizinischen Fakultäten. Ich glaube allerdings nicht, dass angehende Ärztinnen und Ärzte jetzt auch noch Mathematik studieren oder Hilfsinformatiker werden müssen. Das halte ich nicht für realistisch, auch wenn es da einzelne Ausnahmefälle gibt.
An welchen Stellen kann eine TMF die medizinischen Fakultäten oder den MFT konkret unterstützen, wenn es um die Digitalisierung und Ausbildung bzw. Weiterbildung geht?
Wissing: Die TMF ist für uns ein ganz wichtiger Partner, weil sie viel Wissen über digitale Prozesse und über die relevanten Akteure mitbringt. Über diese regulatorische und fachliche Expertise verfügen wir beim MFT nicht in der erforderlichen Tiefe. Die Zusammenarbeit im Rahmen der MII und den dortigen Schulungsangeboten wurde schon erwähnt, eine enge Kooperation gibt es auch in der Koordinierungsgruppe für Gesundheitsforschungsdateninfrastrukturen. Diese wird gemeinsam von der Medizininformatik-Initiative und dem Netzwerk Universitätsmedizin koordiniert. Wenn wir über Themen wie KI und Clinical Data Scientists sprechen, sind aber noch weitere Formen der Zusammenarbeit denkbar.
Die TMF ist für uns ein ganz wichtiger Partner, weil sie viel Wissen über digitale Prozesse und über die relevanten Akteure mitbringt.
Fischer: Ich fantasiere mal ein bisschen: Wir müssten bei genau den Studierenden, die sich vertieft für datenbasierte Forschung interessieren, Kontaktpunkte zur TMF herstellen. Bei denen, die später in Richtung Clinical Data Scientists gehen, ohnehin. Das geschieht projektbezogen schon heute, aber das ist noch ausbaubar. Ich glaube, dass viele unserer künftigen ärztlichen „Übersetzer“ viel zu spät erfahren, dass es eine Plattform wie die TMF gibt, von der sie profitieren können – fachlich und im Sinne einer Kontaktbörse.
Über den Interviewpartner
Prof. Dr. Martin Fischer ist Direktor des Instituts für Didaktik und Ausbildungsforschung in der Medizin an der Ludwig-Maximilians-Universität München. Er ist auch Studiendekan Klinik-Humanmedizin und Masterstudiengänge an der LMU sowie Master of Medical Education (MME) und Inhaber des Zertifikats Medizinische Informatik.
Über den Interviewpartner
Dr. Frank Wissing ist Generalsekretär des Medizinischen Fakultätentags (MFT). Zuvor war er Programmdirektor, u. a. für Klinische Studien, in der Deutschen Forschungsgemeinschaft (DFG). Er hat Biologie studiert.