Die TMF als Hub für die Forschung mit Real-World-Daten
Wie aus Gesundheitsdaten Gesundheitswissen wird
In der Pandemie blickten viele in Deutschland bewundernd auf Länder wie Israel und Großbritannien, wo klinische Studien und epidemiologische Analysen zur COVID-Erkrankung fast am Fließband produziert wurden. Deutschland tat sich damit schwer: Es zeigte sich, dass es keine rasch aktivierbaren Infrastrukturen gab, die es erlaubten, Daten aus der medizinischen Versorgung – sogenannte Routinedaten oder „versorgungsnahe Daten“ – schnell und zuverlässig auszuwerten bzw. für die Forschung zu nutzen.
Routinedaten als zusätzliche Wissensquelle
Die Forschung mit Routinedaten erlebt seit einigen Jahren einen Boom, und das liegt nicht nur an der Pandemie. Es hat auch mit der zunehmenden Digitalisierung zu tun. Immer mehr Daten werden digital erhoben, und durch die Auswertung dieser Daten können in manchen Bereichen Erkenntnisse generiert werden, für die herkömmliche, prospektive Interventionsstudien deutlich länger bräuchten, oder gar nicht möglich wären. Ein typisches Beispiel für den Nutzen der Routinedatenforschung sind neue Erkenntnisse zu Nebenwirkungen von Medikamenten oder Impfungen. Gut untersuchen lassen sich mit Routinedaten auch regionale Unterschiede in der medizinischen Versorgung, außerdem der Einsatz von Therapien bei Menschen, die nicht durch die oft eng gefassten Einschlusskriterien klassischer klinischer Studien abgedeckt sind.
Daten und Bioproben werden deutschlandweit zugänglich
Dass sich die Routinedatenforschung in Deutschland so schwertut, liegt nicht zuletzt an der extrem heterogenen Dokumentationslandschaft. Im Rahmen der Medizininformatik-Initiative (MII) hat die TMF dieses Thema als MII-Koordinationsstelle in den letzten Jahren intensiv bearbeitet. Es wurden an allen universitätsmedizinischen Standorten Patientendaten und Bioproben aus der Routineversorgung für die medizinische Forschung nutzbar gemacht und datenschutzgerecht bereitgestellt, über harmonisierte Biobanken und Datenintegrationszentren (DIZ), die eng mit den klinischen Rechenzentren verbunden sind.
Eine wichtige Komponente ist dabei eine im Rahmen der MII und koordiniert von der TMF entwickelte einheitliche Kerndatensatzstruktur, die digitale Datenauswertungen über Einrichtungsgrenzen hinweg möglich macht – ein absolutes Novum für Deutschland. Durch Erweiterungsmodule wird diese Struktur kontinuierlich größer – zu spät für die COVID-Pandemie, aber vielleicht rechtzeitig für künftige Herausforderungen. Zugänglich gemacht werden die dezentralen Daten über das innerhalb der MII entwickelte und von der TMF betriebene Deutsche Forschungsdatenportal für Gesundheit (FDPG). Es ist der zentrale Anlaufpunkt für Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftler, die ein Forschungsprojekt mit Routinedaten der deutschen Universitätsmedizin durchführen möchten.
Im Netzwerk Universitätsmedizin (NUM) wird aktuell eine Infrastruktur dafür aufgebaut, auch externe versorgungsnahe Daten wie die Abrechnungsdaten der gesetzlichen und privaten Krankenkassen, Daten der Krebsregister und anderer medizinischer Register oder auch der Einwohnermeldeämter für die medizinische Forschung nutzbar zu machen.
Datenkompetenz tut not
Die Pandemie hat gezeigt, dass Routinedatenforschung kein Selbstläufer ist: Einiges, was in dieser Zeit auf Basis von Routinedaten publiziert wurde, musste später durch prospektive Studien korrigiert werden. Oft fehlt es an einer kritischen Bewertung der Entstehung und der Vorverarbeitung der Daten. Der Trend zu Open Data macht es nicht einfacher.
Es reicht nicht, Daten einfach zugänglich zu machen. Es braucht ein Bündel an Kompetenzen, insbesondere medizinische und biostatistische Kompetenz, sonst erodiert am Ende das Vertrauen in die Wissenschaft als Ganzes.
Dennoch: Eine hybride – also für Versorgung und Forschung genutzte – Routinedokumentation ist das Gebot der Stunde. Am Ende profitieren davon nicht nur Versorgungsforscherinnen und -forscher. Auch randomisierte Studien können in einem digitalisierten Umfeld schneller und kontrollierter durchgeführt werden. Israel hat das in der Pandemie eindrucksvoll gezeigt.
Was sind eigentlich „Routinedaten“?
Unter Routinedaten werden üblicherweise Daten aus der normalen medizinischen Versorgung verstanden. Routinedaten werden nicht primär für Forschungszwecke erhoben, sondern dienen zum Beispiel der Dokumentation in medizinischen Einrichtungen oder der Abrechnung von Leistungen. Die Forschung mit Routinedaten – international wird auch gerne von „Real World Data“ und in Deutschland von „versorgungsnahen Daten“ gesprochen – ist so gesehen ein Nebenprodukt der Versorgung. Erst durch die umfassende Digitalisierung der medizinischen Dokumentation ist eine Forschung mit Routinedaten im großen Stil möglich geworden.
Beispiele für Routinedatensätze im deutschen Gesundheitswesen sind:
- die Abrechnungsdatensätze der Krankenkassen bzw. der Kassenärztlichen Vereinigungen
- die Daten der Krebsregister und anderer medizinischer Register
- die Arzneimitteldatensätze der Apothekenrechenzentren
- die medizinische Routinedokumentation im stationären bzw. ambulanten Bereich
- der Inhalt der elektronischen Patientenakte (ePA), die ab 2025 neu aufgesetzt wird
- die Vitalstatus- und Adressdaten der Einwohnermeldeämter
Zahlen und Fakten zum Forschungsdatenportal für Gesundheit (FDPG)
+ 14 Mio. Datensätze zu Krankenhausaufenthalten
+ 1,5 Mrd. Laborwerte
+ 140 Mio. Medikationsdaten
(Stand: Dezember 2024)
Die Rolle der TMF
Soll die in Entstehung befindliche, einheitliche Infrastruktur für die Forschung mit Routinedaten ausgebaut und mit qualitativ hochwertiger Forschung ausgefüllt werden, braucht es eine Plattform, auf der sich Expertinnen und Experten aus Medizin, IT, Datenmanagement, Versorgungsforschung und Biostatistik austauschen können und die Forschenden dabei hilft, methodische oder datenschutzrechtliche Standards zu erfüllen. Die TMF ist für diese Rolle prädestiniert. Sie hat in den letzten 25 Jahren viel Expertise aufgebaut, und sie hat sich den Ruf einer neutralen, vertrauenswürdigen Instanz erarbeitet, die von allen, die mit Gesundheitsdaten forschen wollen, als Unterstützung wahrgenommen wird.
Darauf sollten, darauf müssen wir aufsetzen. Es braucht eine Instanz, die inhaltlich und strukturell in der Lage ist, auch über das FDPG hinaus weitere Service-Angebote für die Forschenden zur Verfügung zu stellen. Diese Angebote können in unterschiedlichen Bereichen angesiedelt sein. Hier könnte die TMF mit ihren Partnern eine stärkere Rolle im Bereich Methodenentwicklung aber noch mehr bei deren Qualitätssicherung und Transfer einnehmen. Denn auch hier herrscht viel Heterogenität und wenig Transparenz. Auch bei Biobanken und in der Genom- und Proteom-Forschung sind weitere Service-Angebote der TMF denkbar.
Ausblick
Im besten Fall können wir in Deutschland in einigen Jahren Routinedaten aus medizinischen Einrichtungen im großen Stil zugänglich machen, mit wenig Zeitverzug und mit einer inhaltlichen Tiefe, die deutlich über die derzeitige Kerndatensatzstruktur hinausgeht. Dank Künstlicher Intelligenz (KI) ist in einer solchen Welt zumindest ein Teil der Analysen automatisierbar.
Flächendeckend zugängliche Routinedaten könnten so zu einer Art deutschlandweitem Gesundheits-Cockpit werden, das u. a. Auskunft über die Verteilung von Versorgungsangeboten in bestimmten Regionen oder bei bestimmten Personengruppen geben kann.
Für eine effizientere öffentliche Gesundheitsvorsorge wäre das Gold wert. Zudem macht eine solche Infrastruktur Deutschland anschlussfähig an internationale Datenräume wie den European Health Data Space (EHDS).
Über den Autor
Prof. Dr. André Scherag ist Direktor des Instituts für Medizinische Statistik, Informatik und Datenwissenschaften am Universitätsklinikum Jena. Er ist außerdem Mitglied im TMF-Vorstand und aktueller Präsident der Deutschen Gesellschaft für Medizinische Informatik, Biometrie und Epidemiologie (GMDS).
Über den Autor
Prof. Dr. Wolfgang Hoffmann, MPH, ist Professor für bevölkerungsbezogene Versorgungsepidemiologie und Community Health an der Universitätsmedizin Greifswald. Er ist geschäftsführender Direktor des Instituts für Community Medicine und Leiter der dortigen Abteilung Versorgungsepidemiologie und Community Health. Weiterhin ist er Standortsprecher Rostock/Greifswald des Deutschen Zentrums für Neurodegenerative Erkrankungen (DZNE) und Vorsitzender des Deutschen Netzwerkes Versorgungsforschung (DNVF) sowie TMF-Vorstandsmitglied.