Die TMF bringt Stakeholder zusammen

Präkompetitive Räume: Innovation auf neutralem Boden

Für die Gesundheitsdatenforschung reichen kluge Fragestellungen alleine nicht aus. Es braucht regu­latorisches Know-how, praxistaug­liche Software, inhaltliche Stan­dards – und all das möglichst überall im Gesundheitswesen. Die dazu nötigen Abstimmungs­prozesse gelingen nur mit einer Instanz ohne Partikularinteressen, die die Komplexität des Themas durchdringt.

Vier Personen in Arztkitteln und Anzügen arbeiten an der Konstruktion einer großen Klammer.

Haben Sie sich schon einmal darüber Gedanken gemacht, wer festgelegt hat, wie ein WLAN-Netzwerk mit Passworteingaben umgeht? Wie genau ein USB-C-Stecker aussehen muss, damit er sowohl in das Mobiltelefon als auch in den Desktop-PC und in die Fahrradlampe passt? Es gibt keine Gesetze, die so etwas festlegen. Die Politik fordert in bestimmten Bereichen Einheitlichkeit. Wie diese Einheitlichkeit dann genau erreicht wird, darauf verständigen sich die jeweils Betroffenen untereinander. Diese Verständigung passiert in präkompetitiven Räumen. Man kann sich das so vorstellen, dass Akteure, die sonst nicht miteinander reden, zusammenkommen und gemeinsam ein Problem lösen, das jeder für sich im Alleingang nicht lösen kann.
 

Gesundheitsdaten: Abstim­mung tut not

Präkompetitive Räume sind auch für die Gesundheitsdatenforschung unverzichtbar. Ihr Potenzial in diesem Bereich wird bisher massiv unterschätzt. Das Gesundheitswesen kann sich von anderen Branchen da eine Menge abschauen. Anders als beim Thema USB geht es in der Forschung mit Gesundheitsdaten nicht (nur) darum, Hardware-Schnittstellen zu definieren. Die sind in dieser Branche das kleinere Problem. Es geht auch nicht nur um einheitliche Datenstandards. Solche Standards existieren häufig, aber sie werden nicht oder nicht umfassend genug angewandt. Das präkompetitive Megathema ist vielmehr das komplexe Neben- und Miteinander von Schnittstellen, Datenstandards und regulatorischen Anforderungen. Es geht darum, die regulatorischen Rahmenbedingungen zu beeinflussen, um die Forschung mit Gesundheitsdaten voranzubringen. Das ist im Interesse aller und muss passieren, bevor der Wettbewerb startet – eben präkompetitiv.

Was ist ein präkompetitiver Raum?

Einen präkompetitiven Raum kann man sich als ein (reales oder virtuelles) Treffen von unterschiedlichen Akteuren einer Branche vorstellen, in diesem Fall des Gesundheitswesens. Es werden dort von Unternehmen und Organisationen, die sonst in Konkurrenz zueinanderstehen, unter bestimmten Regeln Ideen ausgetauscht, es wird Wissen weitergegeben und über ggf. nötige Standardisierung gesprochen.

Von USB lernen, heißt sie­gen lernen

Labordaten sind ein gutes Beispiel: Da gibt es den sehr guten LOINC-Standard (Logical Observation Identifiers, Names, and Codes). Aber der ist so spezifisch und komplex, dass ihn zu wenige nutzen. Das Ergebnis ist fehlende Interoperabilität und dass sich Einheiten und Grenzwerte enorm unterscheiden. Daher ist dann eine automatisierte Aggregation und Auswertung kaum möglich. Provokant gefragt: Wenn Einheitlichkeit selbst bei so etwas scheinbar Simplem wie den Labordaten nicht funktioniert, wie soll sie dann jemals bei komplizierteren, beispielsweise Multi-Omics-Daten, funktionieren? Ein anderes Beispiel sind die datenschutzrechtlichen Vorgaben für die Arbeit mit Gesundheitsdaten, die sich noch immer von Bundesland zu Bundesland unterscheiden. Ähnliche Unterschiede gab es vor der USB-Ära auch in der Welt der Ladegeräte. Und so wie beim Thema USB könnte ein präkompetitiver Raum bei der Gesundheitsdatenforschung die nötige Einheitlichkeit innerhalb des jeweiligen regulatorischen Rahmens schaffen und zwar ohne dass gesetzgeberisch alles bis ins letzte Detail geregelt wird.

Die TMF ist eine Plattform, die genau so etwas leisten kann. Sie ist für alle Akteure zugäng­lich. Sie wird als neutral wahr­genommen. Und sie besitzt mit ihren zahlreichen Arbeits­gruppen die nötige fachliche Tiefe, um wirklich etwas erreichen zu können.

Die TMF als präkompetitiver Raum im Gesundheitswesen

Tatsächlich hat die TMF in genau dieser vermittelnden Funktion schon Erfolge aufzuweisen. Nicht nur, dass sie als Informationsdrehscheibe für Tools und Methoden fungiert und damit eine wichtige Aufgabe präkompetitiver Räume erfüllt: nämlich die Dissemination von Wissen. Sie hat in harter Arbeit auch eine Vereinheitlichung der Patienteneinwilligung für die Gesundheitsdatenforschung erreicht. Und sie hat einheitliche Werkzeuge für die Umsetzung datenschutzrechtlicher Vorgaben entwickelt, die medizinische Einrichtungen und IT-Unternehmen nutzen können.

Eine TMF der Zukunft könnte diese Harmonisierungsarbeit noch weiter ausbauen: Warum nicht Hackathons oder Connectathons organisieren, bei denen Hersteller nach dem Vorbild anderer Branchen forschungsbezogene Software-Lösungen gegeneinander testen? Warum nicht pseudonymisierte oder synthetische Datensätze generieren und zur Verfügung stellen, um bei der Algorithmenentwicklung zu unterstützen? Im USB-Feld gibt es das USB Implementers Forum. Dort arbeiten Akteure zusammen, die nie direkt kooperieren würden. Nichts beim Thema USB funktioniert, solange sich dieses Forum nicht geäußert hat. Nach diesem Vorbild könnte auch eine TMF gezielt auf eine Vereinheitlichung und bessere Umsetzung von existierenden Standards hinarbeiten.

Erfolgsfaktoren eines präkompetitiven Raumes

Ein präkompetitiver Raum organisiert sich nicht von selbst. Damit er funktioniert, müssen einige Voraussetzungen erfüllt sein:

  • Alle Stakeholder, die das Thema betrifft, sind eingebunden.
  • Alle Beteiligten müssen sich stark engagieren.
  • Es gibt klare Absprachen und Regeln, die für Transparenz und Vertrauen sorgen, beispielsweise einen Verhaltenskodex.
  • Es gibt belastbare Governance-Strukturen und eine adäquate finanzielle Ausstattung, um eine längerfristige Arbeit zu ermöglichen.

In die Breite denken

Das würde erfordern, dass nicht nur Universitätskliniken und Datenschützer, sondern auch die gerne mal miteinander konkurrierenden, medizinischen Fachgesellschaften stärker als bisher in die TMF-Arbeit eingebunden werden. Interdisziplinärer Austausch beinhaltet auch Einbindung der Fachkräfte aus den regulatorischen Bereichen; ebenso Kostenträger, Berufsverbände, Unternehmen und nicht zuletzt Patientinnen und Patienten könnten in der TMF stärker vertreten sein. Ein entscheidender Faktor in diesem Zusammenhang ist die persönliche Auseinandersetzung mit dem präkompetitiven Raum, einem entsprechenden Begriffsapparat, sowie der klaren Zuteilung von Verantwortungsbereichen – alles, um bestmöglich auf die interdisziplinäre Arbeit vorbereitet zu sein.

Die zu bearbeitenden Fragestellungen an der Schnittstelle von Versorgung, Forschung, Datenschutz, Patientenrechten und Gesundheits- und IT-Wirtschaft würden einer breiter aufgestellten TMF auf absehbare Zeit jedenfalls nicht ausgehen. Dafür sorgt schon die enorme Zunahme von Daten und Datenquellen. Anhand der Brain-Computer-Interfaces (BCI), die Daten direkt aus dem Gehirn streamen, wird das deutlich. Hier stellen sich Fragen, die bisher allenfalls skizziert sind: Wie sollen solche Daten gespeichert werden? Welche Regulation muss greifen, wenn KI-Algorithmen Hirnströme analysieren? Und was passiert mit den vom BCI gelieferten Daten, wenn ein Unternehmen, das so ein Gerät implantiert hat, Konkurs anmeldet?

Präkompetitiver Raum

Von der Box "Präkompetitiver Raum" führen drei Stränge zu den Boxen "Input", "Output" und "Arbeitsweise", in denen weitere Unterpunkte aufgelistet werden.
Über den Autor

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Jochen Lennerz, MD, PhD, ist Chief Scientific Officer bei dem US-amerikanischen Bio-Tech-Unternehmen BostonGene. Der ausgebildete Pathologe beschäftigt sich in den USA tagtäglich mit der Frage, wie bei datenbasierten Innovationen im Grenzgebiet zwischen Gesundheitsversorgung, Medizintechnik und Künstlicher Intelligenz (KI) aus theoretischen Visionen praktisch umgesetzte Wirklichkeit wird.