Die TMF als Enabler für die translationale Forschung in der digitalen Medizin
Entwicklung und Translation von digitalen Innovationen
Digitalisierung ist kein Selbstzweck. Der Nachweis der Wirksamkeit oder der Effizienz eines digitalen Medizinproduktes, einer Künstlichen Intelligenz (KI) zur Entscheidungsunterstützung oder eines mit Software unterstützten Prozesses, macht den Einsatz in der Medizin sinnvoll. Die Forschung am Menschen oder in der klinischen Routine setzt aber ein hohes Maß an Qualität und Planung bei der Entwicklung und Herstellung der KI sowie bei klinischen Prüfungen von Software und digitaler Medizintechnik voraus. Die kurzen Entwicklungszyklen von Software und die Abhängigkeit von der ebenfalls schnelllebigen Ausführungsumgebung machen es schwierig, digitale Medizinprodukte nach analogem Vorbild zu einem definierten Zeitpunkt zu evaluieren. Gebraucht werden schlanke Prozesse und eventuell auch neue Methoden – zum Beispiel eine antizipierende Bewertung eines sich stetig ändernden Produkts. Dabei ist eine im akademischen Umfeld entwickelte Software oft so speziell auf den jeweiligen Kontext optimiert, dass in einem frühen Entwicklungsstadium ein Transfer in ein Start-up oder ein Unternehmen wenig sinnvoll bzw. unrealistisch ist. Leider erreichen verheißungsvolle innovative Entwicklungen der akademischen Forschung häufig gar nicht das Stadium der klinischen Forschung oder der Routineanwendung, weil die regulatorischen Anforderungen nicht mitgedacht wurden.
Mit der Relevanz kommt Verantwortung, aber bürokratische Hürden behindern die Forschung
Mit der Relevanz der akademisch entwickelten Softwaresysteme für die Forschung und die Versorgung steigt auch die Verantwortung: Es gilt, diese zu übernehmen sowie die Patientensicherheit, die Cybersicherheit der Krankenhäuser als kritische Infrastrukturen und die Verlässlichkeit der Forschung sicherzustellen. Dieses wird durch verschiedene Verordnungen und Gesetze, insbesondere aus dem Bereich des Medizinprodukterechts und der IT-Sicherheit, sowie deren nationale Umsetzungen und Ergänzungen geregelt. Hinzu kommen die einzuhaltenden technischen Normen und, damit verbunden, der Aufbau eines Qualitätsmanagementsystems, eines Risikomanagements und/oder eines Usability-Prozesses. So sinnvoll die Ziele der Gesetze und Normen sind, sie führen dazu, dass nur noch Fachleute den Überblick behalten, sich Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftler also in den Bereich der Regulatory Affairs einarbeiten müssen. Dieser Struktur- und Kompetenzaufbau wird nicht gelingen, wenn Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftler durch umfangreiche Dokumentationsaufgaben und Bürokratie von ihren Kernaufgaben – Forschung und Entwicklung – abgehalten werden und gleichzeitig im Rahmen des Wissenschaftszeitvertragsgesetzes promovieren oder ihre Tenure-Track-Kriterien erfüllen sollen.
Translationszentren
Ein Translationszentrum ist eine zentrale Einrichtung in der Universitätsmedizin mit dem Ziel, den Prozess der Translation von der Grundlagenforschung bis zur klinischen Forschung zu unterstützen. Dort werden die Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftler bei der Entwicklung einer Translationsstrategie entlang der Technology Readiness Level (TRL) beraten und begleitet. Zentrale Leistungen des Translationszentrums können z. B. ein einheitliches Qualitätsmanagement nach DIN EN ISO 13485 und ein Risikomanagement nach DIN EN ISO 14971 sein. Unterstützt werden kann dies durch weitere Dienstleistungen, z. B. zur Unterstützung der klinischen Bewertung oder des Usability-Prozesses. Damit findet der Erkenntnisgewinn aus den frühen klinischen Studien noch in der Universitätsmedizin statt. Gleichzeitig erhalten die Produkte eine höhere Reife, wodurch die Wahrscheinlichkeit eines erfolgreichen Transfers akademischer Erfindungen und Entwicklungen in ein kommerzielles Unternehmen und damit einer breiteren Nutzung und Wertschöpfung steigt.
Strukturaufbau notwendig: ein Auftrag an Hochschulleitung und Politik
Daher gilt: Wenn Universitäten neben der Grundlagenforschung auch weiter translationale Forschung betreiben sollen, also Forschung, die an die Patientinnen und Patienten und in die klinische Versorgung geht, dann benötigen sie Strukturen, in denen die Kompetenz im Bereich Regulatory Affairs, Qualitäts- und Risikomanagement aufgebaut und gehalten werden kann. Und sie brauchen standardisierte Prozesse, die helfen, Bürokratie abzubauen. Kurz:
Wir brauchen Translationszentren an den Universitäten!
Es gibt eine Blaupause für Translationszentren: die Koordinierungszentren für klinische Studien. Diese wurden eingerichtet, als 2004 die Anforderungen an Arzneimittelstudien so gestiegen sind, dass einzelne Kliniken diesen Qualitätssprung, aber auch die Bürokratie nicht mehr allein stemmen konnten. Die Einrichtung solcher Zentren bedarf sowohl einer strategischen Entscheidung der Hochschulleitungen als auch eines Förderprogramms vonseiten der Politik. Dieses sollte sowohl den Aufbau der Struktur als auch „Anschubprojekte“ fördern, über die sich diese Strukturen finanzieren können. Infrastruktur und die ersten Pilotprojekte müssen gleichzeitig gefördert werden.
Wie wird die Entwicklung von akademischer Software in der biomedizinischen Forschung reguliert?
Im Wesentlichen gelten die gleichen Gesetze wie für kommerzielle Hersteller. Zu unterscheiden sind drei Blöcke:
Das Medizinprodukterecht mit der EU Medical Device Regulation (MDR), der EU In Vitro Diagnostic Regulation (IVDR) und den dazugehörigen nationalen Regelungen zielt darauf ab, dass am Menschen angewandte Produkte so sicher wie möglich sind und das leisten, was sie leisten sollen. Die Umsetzung erfolgt über allgemeine technische Normen, z. B. zum Qualitätsmanagement, dem Risikomanagement oder dem Usability-Prozess, sowie über produktspezifische Normen. Darüber hinaus werden im Medizinprodukterecht Qualitätsstandards für die Forschung festgelegt, um das Wohlergehen von Patienten und Probanden sowie die Integrität und Verlässlichkeit der Forschung an Medizinprodukten sicherzustellen.
Der EU Artificial Intelligence Act (AI Act) reguliert die Entwicklung und Nutzung von KI in der EU durch ein risikobasiertes System, das Anwendungen nach Sicherheits- und Grundrechtsrisiken einstuft. Prinzipiell hat die Regulierung durch MDR und IVDR Vorrang, in vielen Bereichen gelten die Richtlinien ergänzend. Da die Gesetze in vielen Bereichen nicht aufeinander abgestimmt sind, gibt es hier viele offene Fragen, z. B. wann beide Regulierungen gelten und wann welche Vorrang hat.
Der EU Cyber Resilience Act (CRA) fordert, dass Software, einschließlich Open-Source-Software, Sicherheitsanforderungen erfüllt, wenn sie kommerziell vertrieben oder in kritischen Infrastrukturen wie Krankenhäusern eingesetzt wird. Die zweite Richtlinie zur Sicherheit von Netz- und Informationssystemen (NIS-2) verlangt von Betreibern kritischer Infrastrukturen, einschließlich Krankenhäusern, strenge Cybersicherheitsmaßnahmen und Haftung bei Verstößen. Dies betrifft auch den Einsatz und die Wartung akademisch entwickelter Software und Open-Source-Software. Zusammen erhöhen sie den Druck, Sicherheitsstandards bereits in der Entwicklung zu berücksichtigen und laufende Updates sicherzustellen.
Begleitung, Kompetenzaufbau und Dissemination: die Rolle der TMF
Wie diese Strukturen am besten gestaltet werden können, welche Translations- und Transferstrategien für welche Produkte aus wissenschaftlicher und wirtschaftlicher Sicht sinnvoll sind und wie das notwendige Wissen effektiv an die Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftler vermittelt werden kann – mit diesen Fragen beschäftigt sich die TMF-AG Medizinische Software und Medizinprodukterecht (MSM) in Zusammenarbeit mit dem Projekt fit4translation aus der Medizininformatik-Initiative (MII). Die relativ neue TMF-AG MSM schließt eine Lücke zwischen bereits bestehenden TMFArbeitsgruppen, die sich mit dem Betrieb von Forschungs-IT oder der Planung und der Durchführung von klinischen Studien beschäftigen. Die TMF-AG MSM vernetzt nicht nur die Expertinnen und Experten aus den verschiedenen Hochschulen und Verbundforschungsprojekten, sie erarbeitet auch Handlungsempfehlungen und führt Einzelfallberatungen durch – ganz nach dem Motto: Wissen von der Community für die Community.
Über die Autorin
Prof. Dr.-Ing. Myriam Lipprandt ist Professorin für Medizinische Informatik (Fokus Medical Software Engineering) und Stellvertretende Direktorin des Instituts für Medizinische Informatik der RWTH Aachen. Sie ist Mitinitiatorin und Sprecherin der TMF-AG Medizinische Software und Medizinprodukterecht. Darüber hinaus agiert sie als Koordinatorin des BMBF geförderten Projektes fit4translation.