Forschungsinfrastruktur 2.0
Eine riesige Chance für die neue Bundesregierung
Infrastrukturen im deutschen Gesundheitswesen sind ein Dauerthema. Konkret Sie haben sich damit praktisch Ihre ganze Karriere lang beschäftigt. In der medizinischen Versorgung ist das jetzt halbwegs gelöst – Stichwort Telematikinfrastruktur. Sind wir in der Forschung auch schon so weit?
Überhaupt nicht, da muss dringend etwas passieren. Wir neigen in Deutschland auf allen Ebenen zu parallelen Strukturen, die auf Dauer nicht hilfreich sind. Ein gutes Negativbeispiel aus der Vergangenheit war das Nebeneinander von dem Deutschen Institut für Medizinische Dokumentation und Information (DIMDI) und der zentralen Medizinbibliothek in Köln. Das wurde nie richtig gelöst. Am Ende ging das DIMDI im Bundesinstitut für Arzneimittel und Medizinprodukte (BfArM) auf, was die Probleme auch nicht löst. Bei den Forschungsdateninfrastrukturen muss das besser gelingen.
Wie schaffen wir das?
Netzwerk Universitätsmedizin (NUM), Medizininformatik-Initiative (MII), Nationale Forschungsdateninfrastruktur (NFDI) – das ist alles super, man kann nur den Hut ziehen vor dem, was da geleistet wurde und wird. Es braucht jetzt aber einen großen Gong, der eine neue Phase einleitet, in der diese Infrastrukturen zusammengeführt und verstetigt werden. Und dabei reden wir dann von einer neuen, hoch dynamischen Struktur, die keinen Projektcharakter haben darf und die ein öffentlich transparentes Qualitätsmanagement etablieren muss.
Ansatzweise versucht wurde so etwas in den letzten Jahren ja, Stichwort MII. Aber letztlich hat man dann doch nur die einzelnen Verbundprojekte durch einen ebenfalls projektgeförderten Infrastrukturmantel überdeckt.
Genau, der Infrastrukturmantel war zwar der richtige Gedanke, aber heute wissen wir, dass eine Projektförderung für den Aufbau einer Infrastruktur nur in der Frühphase geeignet ist. Danach muss es sehr rasch in Richtung einer Verstetigung gehen, und diese verstetigten Infrastrukturen müssen dann auch qualitativ effizient bleiben. Das ist der zweite wichtige Punkt. Es gibt dafür Beispiele: In der Krankenversorgung haben wir bei der Diagnosedokumentation ähnliche Prozesse durchlaufen. Dort erkannte man deutlich früher als in der Forschung, dass es ein Qualitätsmanagement braucht – so wie es in den 70er Jahren in der Geburtshilfe begonnen wurde. Solche Ansätze fehlen bei den Forschungsinfrastrukturen noch völlig, weil es mit der BMBF-Projektförderung nicht zusammenpasst.
Eine Projektförderung ist für den Aufbau einer Infrastruktur nur in der Frühphase geeignet. Danach muss es rasch in Richtung einer Verstetigung gehen.
Was ist in den letzten 25 Jahren erreicht worden?
Die Förderung des BMBF hat sich über die Medizin hinaus in Richtung des Managements von Infrastrukturen für digitale (Daten) und analoge (Proben) Forschungsergebnisse entwickelt. Dies gilt für die Medizin wie für andere Gebiete, z. B. Archäologie oder Klimaforschung. Die Gedanken dahinter sind international kompetitiv, auf Augenhöhe mit den USA oder den nordischen Ländern. Politisch werden aber Bedeutung und Dynamik der datengetriebenen Forschung im internationalen Wettbewerb von vielen bis heute unterschätzt. Dass es gelungen ist, die TMF und analoge Organisationen in anderen Wissenschaftsbereichen trotz fehlender Dauerförderung als integrierende Plattformen zu erhalten, ist extrem positiv. Das muss uns jetzt aber für die zukünftigen übergreifenden Dateninfrastrukturen in einer effizienteren Weise ebenfalls gelingen.
Politisch werden die Bedeutung und Dynamik der datengetriebenen Forschung im internationalen Wettbewerb von vielen bis heute unterschätzt.
Ist dafür das politische Bewusstsein in Deutschland vorhanden?
Unter Menschen, die das Thema kennen, ja. In der Politik wird leider die Dringlichkeit entweder nicht wahrgenommen oder man hat Angst vor dem Thema. Digitale Transformation führt zu großen Veränderungen an vielen Stellen, insofern kann man diese Angst vieler Führungspersonen schon verstehen. Aber diese Angst vor eingreifenden Veränderungen ist kontraproduktiv. Die digitale Transformation ist in Deutschland deswegen besonders schwierig, weil dieses Land mit seinen alten, letztlich auf die 50er Jahre zurückgehenden Strukturen und Rollenverteilungen jahrzehntelang außerordentlich erfolgreich war. So etwas zu ändern, ist schwer, aber gleichwohl dringend nötig.
Digitale Transfor mation führt zu großen Veränderungen an vielen Stellen.
Was müsste eine neue Bundesregierung konkret tun?
Für die neue Bundesregierung ist das eine riesige Chance. Sie müsste eine Initiative für eine Forschungsinfrastruktur 2.0 starten, die TMF, NFDI, NUM, MII und andere einbezieht und die für den gesamten Gesundheitssektor ein neues Infrastrukturkonzept entwickelt. Der Rat für Informationsinfrastrukturen (RfII) hat hier schon einiges an Anstößen gegeben, auf die aufgesetzt werden kann. Für die Konzeption braucht es einen Kreis sehr erfahrener Expertinnen und Experten, vielleicht zehn Leute, die das ein Jahr lang vorbereiten und öffentlich diskutieren.
Die neue Bundesregierung müsste eine Initiative für eine Forschungsinfrastruktur 2.0 starten, die für den gesamten Gesundheitssektor ein neues Infrastrukturkonzept entwickelt.
Danach würde man das konsentierte Konzept über einen Zeitraum von mehreren Jahren in einer geeigneten Struktur auf nationaler Ebene umsetzen. Die Experten müssen wissen, warum das damals mit dem DIMDI nicht geklappt hat und was die Probleme von NFDI und TMF sind. Wichtig wäre außerdem, dass eine solche übergreifende Infrastruktur nicht nur die digitalen Daten, sondern auch das gesamte Bioprobenmaterial adressiert.
Das wird Geld kosten.
Viel Geld. Die Summen, die für digitale Infrastrukturen benötigt werden, um mit den Inhalten – nicht mit der Computertechnik – international kompetitiv zu werden, werden meines Erachtens um den Faktor zehn unterschätzt – und zwar auf allen Ebenen. Bei den IT-Investitionen in Universitätskliniken sind wir immer noch auf dem Kabelund Computerniveau, da sind die Inhalte noch längst nicht eingepreist. Künstliche Intelligenz finden alle ganz toll, aber dass KI zu erheblichen Kostenzuwächsen führen wird, ist nirgendwo eingeplant. Auch aus Kostengründen ist es übrigens zwingend, dass die Dateninfrastruktur für die Versorgung und die Forschungsinfrastruktur gemeinsam gedacht werden. Das parallel zu entwickeln, führt in die Sackgasse, weil nicht finanzierbar.
Es ist zwingend notwendig, dass die Dateninfrastruktur für die Versorgung und die Forschungsinfrastruktur gemeinsam gedacht werden.
Was könnte in einer Forschungsinfrastruktur 2.0 eine Rolle für die TMF sein?
Ohne die TMF in der angesprochenen Integrationsplattform 2.0 geht das nicht. Aber auch ohne das Know-how der anderen bestehenden Organisationen geht der Generationswechsel nicht. Die TMF hat über 20-jährige Erfahrung, viele jüngere Plattformen haben die bitteren Lernprozesse einfach noch nicht durchlitten. Die TMF ist in gewisser Weise eine seniore Organisation im besten Sinne, die sich in den Aufbau einer neuen übergreifenden 2.0 Infrastruktur – und später dann in deren Erhalt unter dynamischen Bedingungen – zwingend einbringen muss.
Sind Sie insgesamt optimistisch?
Ja. Wenn als politisches Ziel verstanden wird, dass KI und digitale Transformation nur mit einer Lösung 2.0 in der medizinischen Forschung integriert werden können – auf jeden Fall!
Über den Autor
Prof. Dr. Otto Rienhoff war von 1994 bis 2019 Direktor der Abteilung für Medizinische Informatik an der Universität Göttingen. Seit dem Jahr 2000 arbeitet er mit am Aufbau nationaler Dateninfrastrukturen für die medizinische Verbundforschung. Rienhoff war 1993 bis 1995 Präsident der Gesellschaft für Medizinische Informatik, Biometrie und Epidemiologie (GMDS), danach von 1995 bis 1998 Präsident der International Medical Informatics Association (IMIA). Er war 1999 am Aufbau der TMF beteilgt, zunächst als Sprecher des Koordinierungsrats, dann als stellvertretender Vorsitzender und ab 2008 als Vorsitzender des Beirats. 2014 bis 2017 baute er den Rat für Informationsinfrastrukturen der Gemeinsamen Wissenschaftskonferenz (GWK) mit auf und etablierte die erste Phase der Nationalen Forschungsdaten Infrastruktur (NFDI). Rienhoff war über vier Amtsperioden Mitglied in der DFG-Rechnerkommission.