Stellungnahme der TMF zum Entwurf eines Gesetzes zum Schutz elektronischer Patientendaten in der Telematikinfrastruktur (Patientendaten-Schutz-Gesetz – PDSG)
Berlin, 19. Mai 2020. Umfang der Kommentierung: Die vorliegende Stellungnahme der TMF bezieht sich in Abschnitt II ausschließlich auf die für die medizinische Forschung relevanten Sachverhalte des vorliegenden Gesetzentwurfes.
Downloads
Korrespondenzadresse
TMF – Technologie- und Methodenplattform für die vernetzte medizinische Forschung e. V.
Charlottenstraße 42
10117 Berlin
Ansprechpartner:
Sebastian C. Semler
Geschäftsführer
Tel.: +49 (0)30 2200247-10
sebastian.semler@tmf-ev.de
Über die TMF
Die TMF - Technologie- und Methodenplattform für vernetzte medizinische Forschung e. V. (kurz: TMF) ist mit gegenwärtig 64 Mitgliedern und ihren über einhundert Standorten bundesweit die Dachorganisation für die medizinische Verbundforschung in Deutschland. Sie ist Plattform für den interdisziplinären Austausch und die projekt- wie standortübergreifende Zusammenarbeit, um organisatorische, rechtlich-ethische und technologische Probleme der modernen medizinischen Forschung zu identifizieren und zu lösen. Die als gemeinnützig anerkannte TMF stellt diese Lösungen frei und öffentlich zur Verfügung. Mit dem Aufbau tragfähiger Infrastrukturen für die medizinische Forschung leistet die TMF einen Beitrag zur Stärkung des Wissenschaftsstandortes Deutschland im europäischen wie internationalen Wettbewerb.
I. Zum Gesetzentwurf allgemein
Die Digitalisierung hat das Potential, unser Gesundheitssystem nachhaltig zu transformieren: Kein Dokument geht verloren, Informationen sind transparent, Doppeluntersuchungen entfallen, Leistungserbringer bekommen einen schnellen Überblick über die Patienten, so dass Diagnosestellung und Therapie zügiger und passgenauer erfolgen können. Neue digitale Gesundheitsanwendungen ermöglichen eine evidenzbasierte Prävention und Nachsorge im häuslichen Umfeld. Versorgung kann dadurch insgesamt besser, schneller und zielgerichteter erfolgen. Derzeit liegen die Daten und Informationen noch oftmals verstreut und unzugänglich in verschiedenen Kliniken und Forschungsinstitutionen vor. Eine intelligente Datennutzung scheitert häufig ebenso an uneinheitlichen Datenformaten und Standards wie auch einer allzu oft unstrukturierten Dokumentation im ärztlichen und klinischen Alltag. Das ist zuvorderst ein ernsthaftes Problem der Effizienz und für die Patientensicherheit in der Versorgung. Große Chancen liegen darüber hinaus im engen Zusammenspiel von Versorgung und Forschung. Diagnostik und Behandlung können durch datenbasierte Versorgungsforschung kontinuierlich überprüft und optimiert werden. Erkrankungen können früher erkannt werden, um sie besser bekämpfen zu können. Und neue Präventionsansätze können verhindern, dass Erkrankungen überhaupt erst zur Ausprägung gelangen. Durch die Zusammenführung großer Datenmengen der Routineversorgung wird es künftig möglich sein, neue ursächliche Krankheitszusammenhänge zu erkennen, optimale Behandlungsstrategien zu entwickeln und KI-Anwendungen an qualitätsgesicherten Lerndatenkörpern so zu trainieren, dass diese Ärztinnen und Ärzte im Versorgungsalltag optimal unterstützen können.
Daher begrüßt die TMF - Technologie- und Methodenplattform für vernetzte medizinische Forschung e. V. (kurz: TMF) die mit dem vorliegenden Gesetzentwurf verfolgte Konsolidierung der einschlägigen Digitalisierungsnormen des SGB V in dezidierten eigenen Zukunftskapiteln wie auch die vorgesehenen zusätzlichen Transformationsimpulse. Entscheidend für den Forschungs- und Wirtschaftsstandort sind dabei Verfügbarkeit, Verknüpfbarkeit und Verwertbarkeit der in der zukünftigen elektronischen Patientenakte (ePA) enthaltenen Informationen.
Die mit dem vorliegenden Entwurf beabsichtigte zentrale Bereitstellung medizinischer Terminologien ermöglicht erstmals eine sektorübergreifende und über einzelne Verbundprojekte hinausgehende nationale Interoperabilität in der Medizin. Für die Forschung eröffnet dies neue Möglichkeiten der Auswertung und Erkenntnisprozesse. Wir müssen uns dabei von den Papieranalogien lösen: Wenn Deutschland als Forschungs- und Entwicklungsstandort eine gute Rolle spielen soll, wenn Patientinnen und Patienten nicht nur durch ein Weniger an Bürokratie, sondern eben vor allem durch ein Mehr an Gesundheit von der Digitalisierung profitieren sollen, dann muss die ePA mehr sein als eine elektronische Blattsammlung. Wichtig ist, die Auswahl der Terminologien an den Anforderungen aller Stakeholder zu orientieren. Dabei ist neben grenzübergreifenden Versorgungsfällen insbesondere auch die Anschlussfähigkeit zur internationalen Forschungscommunity sicherzustellen.
Um das Potential der Digitalisierung tatsächlich umfassend nutzen zu können, braucht es jedoch mehr als technische IT-Lösungen. Forschung und Versorgung müssen künftig noch enger zusammenarbeiten. Es braucht eine neue Kultur der Datenteilung und der gemeinsam gelebten Verantwortung für die Datenqualität.
Ein zentraler Erfolgsfaktor für das „Data Sharing“ ist die forschungskompatible elektronische Patientenakte. Mit ihr können die Daten zwischen den Behandelnden geteilt werden. Zugleich könnten
sie mit Zustimmung der Patientinnen und Patienten für wissenschaftliche Analysen zur Verfügung stehen. Viel zu viele Informationen zu Krankheitsverläufen, Erfolgen und Misserfolgen unterschiedlicher Therapien schlummern heute noch ungenutzt auf Papier, in inkompatiblen Computerprogrammen oder in den Köpfen weniger Expertinnen und Experten. Wenn – mit Zustimmung der Patienten – diese vielzähligen vorhandenen Informationen sektorenübergreifend verfügbar und nutzbar gemacht werden können, können große Fortschritte in der Erforschung und Bekämpfung von Krankheiten erreicht werden. Die Erschließung der Routinedaten der Krankenversorgung für die Zwecke der medizinischen Forschung in einem lernenden Gesundheitssystem steht dabei im besonderen Interesse des Gemeinwohls. Zu Recht hat die
Datenethikkommission der Bundesregierung in ihrem Abschlussbericht auf die ethischen Konsequenzen einer unterlassenen Nutzung vorhandener Daten zum Zwecke des medizinischen Fortschrittes hingewiesen.
Eine solche forschungskompatible ePA muss intersektoral aufgebaut sein und dabei über die einheitliche Anwendung internationaler Standards die Vergleichbarkeit der enthaltenen Daten gewährleisten. Die Inhalte der ePA müssen in strukturierter Form vorliegen, sodass diese für die datengestützte Analyse großer Patientenkohorten zur Verfügung stehen. Bestehende Prozesse der sektoralen Leistungserbringer müssen in Hinblick auf die Qualität der in die ePA zu überführenden Daten überprüft und durchgängig digitalisiert werden. Bestehende Dokumentationslücken müssen geschlossen und notwendiger Kontext vertikal ergänzt werden. Auch zusätzliche Möglichkeiten der Integration der Selbstbeobachtung der Patientinnen und Patienten in Form von Patient-Reported Outcome (PRO) in den Behandlungszyklus sind zu schaffen und bringen die Patientinnen und Patienten in eine weitaus aktivere Rolle in Bezug auf die eigene Therapietreue. In der Summe wirkt die forschungskompatible ePA transformierend auf das Gesundheitssystem insgesamt.
Um medizinische Daten für die Forschung deutschlandweit nutzbar zu machen, hat das BMBF bereits 2015 mit der Medizininformatik-Initiative (MII) ein langfristig angelegtes und modular aufgebautes Förderkonzept zur Medizininformatik ins Leben gerufen. Bereits gegenwärtig arbeiten in der MII alle Universitätsklinika Deutschlands an über 30 Standorten gemeinsam mit weiteren außeruniversitären Forschungseinrichtungen und Industriepartnern daran, Routinedaten der Krankenversorgung deutschlandweit für die medizinische Forschung zu erschließen. Dazu bauen die in vier Konsortien organisierten Standorte Datenintegrationszentren auf und entwickeln Lösungen für über ein Dutzend konkrete Anwendungsfälle. Das BMBF investiert allein bis zum Jahr 2021 rund 160 Millionen Euro in das Förderprogramm. Die vom BMBF für die MII bereitgestellte deutschlandweite SNOMED CT-Lizenz ist ein Beispiel dafür, wie es gelingen kann, internationale Anschlussfähigkeit sicherzustellen und im Gegenzug Standards mitzuprägen. Die Medizininformatik-Initiative ist hier Vorreiterin in Deutschland (z. B. im Zuge des öffentlichen Kommentierungsverfahrens zu den Fachmodulen des MII-Kerndatensatzes). Erst kürzlich konnte die MII zudem das Abstimmungsverfahren zu einer breiten informierten Einwilligung der Patientinnen und Patienten in die Datennutzung für die medizinische Forschung mit allen Datenschutzbehörden des Landes und des Bundes mit Erfolg abschließen. Das Know-how der MII sollte in der konkreten Ausgestaltung der Datenfreigabe zu Forschungszwecken und der Festlegung der zukünftigen Interoperabilitätsstandards Berücksichtigung finden.
Es ist richtig und wichtig, dass im vorliegenden Gesetzentwurf die Autonomie der Patientinnen und Patienten durch die Schaffung individueller Ansprüche auf Dateneinstellung in die ePA und einer patientenzentrierten elektronischen Aktenführung gestärkt wird. Zugleich ist freilich auch der Bedarf der Forschung an möglichst vollständigen Daten, um sich ein realistisches Bild von Erkrankungsverläufen, Komorbiditäten und geeigneten Therapie- und Versorgungskonzepten machen zu können, angemessen in die Ausgestaltung der konkreten Datenfreigabe einzubeziehen. So ist es notwendig, im Rahmen von Digital-Health-Literacy-Aufklärungskampagnen die Patientinnen und Patienten insbesondere auch über das hohe Niveau des Datenschutzes im Bereich der Forschung zu informieren und auf die Bedeutung einer möglichst vollständigen Datenbereitstellung hinzuweisen.
II. Zu den Regelungen im Einzelnen
Auf einen Blick
- Diskriminierungsfreien ePA-Zugang für einwilligungsbasierte Forschungsvorhaben in § 354 Abs. 2 Nr. 5 SGB V neu und § 355a SGB V neu gewährleisten
- Transparenz der Forschungsdatennutzungen für die Patientinnen und Patienten sicherstellen und geeignete Informationsangebote schaffen
- Stakeholder in die technische Spezifikation der zukünftigen Forschungsdatenschnittstelle nach § 354 Abs. 2 Nr. 5 SGB V neu einbeziehen
- Kompetenzzentrum für medizinische Terminologien nach § 355 Abs.2 SGB V durch Communityeinbezug stärken und klare Verfahren etablieren
1. § 354 Abs. 2 Nr. 5 SGB V neu: Festlegungen der Gesellschaft für Telematik für die elektronische Patientenakte
Wir begrüßen nachdrücklich das mit § 354 Abs. 2 Nr. 5 SGB V neu erneut aufgegriffene und zeitlich im Vergleich zum Referentenentwurf des DVG vorverlagerte Ziel, die in der ePA gespeicherten Patientendaten für Forschungszwecke technisch zu erschließen. Dies spiegelt den Auftrag zur Einführung einer forschungskompatiblen elektronischen Patientenakte aus der gemeinsamen Hightech-Strategie der Bundesregierung.
Soweit das Gesetz der Gesellschaft für Telematik die Aufgabe zur Schaffung der technischen Voraussetzungen einer Forschungsdatenausleitung aus der elektronischen Patientenakte zuweist, sollte diese auf gesetzlicher Grundlage die tatsächlichen Bedarfe der medizinischen Forschung in der Erstellung der einschlägigen Spezifikationen berücksichtigen. Es gilt zu vermeiden, dass die entstehende Schnittstelle inkompatibel zu bereits bestehenden oder im Aufbau befindlichen öffentlich geförderten Infrastrukturen wie die der Medizininformatik-Initiative steht, unangemessene Investitionskosten und organisatorische Anforderungen auslöst oder ein Informationsverlust durch die Verwendung nicht standard-konformer Protokolle eintritt. Deshalb ist es erfreulich, dass die Bundesregierung den ursprünglich vorgelegten Referentenentwurf nunmehr um eine obligate Benehmensherstellung zwischen gematik und den für die Forschung maßgeblichen Bundesverbänden analog der zwischenzeitlich bewährten Regelung des § 291b Abs 1. S. 7ff SGB V alt bzw. § 355 Abs. 2 SGB V neu ergänzt hat.
Mit Inkrafttreten des Terminservice- und Versorgungsgesetzes (TSVG) am 11. Mai 2019 hat die Kassenärztliche Bundesvereinigung auf Grundlage von § 291b Abs. 1 Satz 7ff SGB V damit begonnen, die semantischen und syntaktischen Festlegungen der s.g. Medizinischen Informationsobjekte (MIO) als Inhalte der elektronischen Patientenakte zu definieren. Der Wortlaut der Vorschrift stellt allerdings gegenwärtig nicht sicher, dass die so definierten MIOs Datenstrukturen enthalten, die nicht nur technisch über die zu schaffende Schnittstelle für Forschungszwecke ausgeleitet werden, sondern auch tatsächlich für Forschungszwecke nutzbar gemacht werden können. Hierzu müssen die in der elektronischen Patientenakte enthaltenen MIOs weit über ein elektronisches Abbild („PDF als Fax des 21. Jahrhunderts“) bisheriger Papierdokumente hinausgehend
- internationale Terminologien in hinreichend breiten Kerndatensätzen nutzen,
- eine detaillierte, präzise und qualitätsgesicherte Annotierung ermöglichen
- und die deutschlandweit einrichtungsübergreifende einheitliche Verwendung erforderlicher Metadaten vorschreiben.
Wenngleich die Kassenärztliche Bundesvereinigung bereits gegenwärtig eigeninitiativ in einem engen und vertrauensvollen Austausch u. a. mit der Medizininformatik-Initiative des BMBF, den Verbänden der medizinischen Forschung und der Standardisierungsorganisationen eine forschungskompatible Ausgestaltung aller MIOs anstrebt, schlagen wir mit Blick auf etwaige Ressourcenkonkurrenzen mit anderen gesetzlichen Fristsetzungen vor, in den Wortlaut von § 355 Abs. 6 SGB V neu das Ziel der Forschungskompatibilität in Hinblick auf § 354 Abs. 2 Nr. 5 SGB V aufzunehmen:
„Die Kassenärztliche Bundesvereinigung hat bei Ihren Festlegungen nach Absatz 1 durchgängig internationale Standards einzubeziehen sowie in Abstimmung mit den für die Wahrnehmung der Interessen der Forschung im Gesundheitswesen maßgeblichen Bundesverbänden die Forschungskompatibilität in Hinblick auf § 354 Abs. 2 Nr. 5 zu gewährleisten. (…)“
Der Terminus Forschungskompatibilität greift dabei die bereits in der Hightech-Strategie der Bundesregierung eingeführte Begrifflichkeit auf.
2. § 355 Abs. 2 SGB V neu: Terminologien
Wir begrüßen die beabsichtigte nationale Bereitstellung geeigneter Terminologie-Lizenzen durch das Bundesinstitut für Arzneimittel und Medizinprodukte. Das Fehlen entsprechender Lizenzen und der erforderlichen Bereitstellung nationaler Datenbanken hemmt gegenwärtig die Interoperabilität im Gesundheitswesen. Insbesondere standortübergreifende Forschungsvorhaben sehen sich mit einer Vielzahl unterschiedlicher proprietärer Datenstandards und historisch gewachsener Dialekte gegenüber. Auch ist die sinnvolle Auswertung freitextlicher Dokumente entweder gar nicht oder nur mit wesentlich erhöhten Aufwänden möglich.
Die Katalysatorfunktion einheitlicher Terminologiesysteme für die Digitalisierung unseres Gesundheitswesens konnte jüngst durch die erstmalige deutschlandweite Lizenzierung der international führenden medizinischen Terminologie SNOMED CT durch das BMBF für die Beteiligten der Medizininformatik-Initiative und ihre Partner deutlich gemacht werden. Die TMF als gegenwärtiges National Release Center für SNOMED CT in Deutschland konnte bereits mehr als die Hälfte der in der Pilotphase verfügbaren Sublizenzen ausstellen. Sowohl die medizinischen Informationsobjekte der elektronischen Patientenakte (ePA), als auch der nationale Kerndatensatz zur COVID-19-Forschung GECCO werden auf dieser gemeinsamen Sprache basieren und können zukünftig sektorübergreifend für Forschungszwecke genutzt werden.
Wir begrüßen daher die vorgesehene gesetzliche Verpflichtung zur Nutzung der Terminologien und Nomenklaturen seitens der mit der Definition der Inhalte der zukünftigen ePA betrauten Körperschaften. Mit Blick auf die intendierte Forschungsdatennutzung ist zu gewährleisten, dass die gem. § 355 Abs. 2 SGB V zu beschaffenden nationalen Terminologie-Lizenzen auch durch Forschende unabhängig von der Rechtsform und insbesondere unabhängig von der Zugehörigkeit zu einem Heilberuf oder einer Institution der Krankenversorgung genutzt werden können.
Angesichts der Bedeutung der langfristigen Entscheidung für oder gegen eine national und intersektoral einzusetzende Terminologie oder Nomenklatur und sich daraus ergebenden weitreichenden Investitionsentscheidungen sollten zumindest keine geringeren Mitwirkungsrechte der betroffenen Interessen im Gesundheitswesen gelten, als für die Definition der Inhalte der elektronischen Patientenakte durch die Kassenärztliche Bundesvereinigung bzw. die Deutsche Krankenhausgesellschaft vorgesehen. Eine Geschäftsordnung, die der Zustimmung des BMG und des BMBF bedarf, sollte neben Fristen auch das Verfahren des Einbezuges des neu geordneten Kuratoriums insbesondere in Fragen der Lizenzbeschaffung und Lizenzverwaltung sowie des Betriebes notwendiger Infrastrukturen wie z. B. Terminologieservern regeln. Mit Blick auf die Wesentlichkeitstheorie regen wir zudem an, den Aufgabenkatalog des zu errichtenden Kompetenzzentrums aus der Begründung des vorliegenden Referentenentwurfes in den Gesetzestext zu verschieben. Schließlich sollte mittels der Errichtung geeigneter Arbeitskreise eine enge sektorenübergreifende Rückkopplung mit den Nutzern der beschafften Lizenzen sichergestellt werden.
Wir schlagen daher vor, die Regelungen zur Errichtung eines nationalen Kompetenzzentrums für medizinische Terminologien in einen eigenständigen § 355a SGB V neu zu verlagern und weiter auszugestalten:
§ 355a Errichtung und Aufgaben des nationalen Kompetenzzentrums für medizinische Terminologien
(1) Das Bundesinstitut für Arzneimittel und Medizinprodukte errichtet bis zum 1. Januar 2021 ein nationales Kompetenzzentrum für medizinische Terminologien.
(2) Das Kompetenzzentrum für medizinische Terminologien trifft die notwendigen Festlegungen und Maßnahmen zur Bereitstellung geeigneter medizinischer Terminologien im Benehmen mit einem Kuratorium für Klassifikationen und Terminologien im Gesundheitsbereich, bestehend aus
- der Gesellschaft für Telematik
- den Spitzenorganisationen nach § 306 Absatz 1 Satz 1,
- den maßgeblichen, fachlich betroffenen medizinischen Fachgesellschaften,
- der Bundespsychotherapeutenkammer,
- den maßgeblichen Bundesverbänden der Pflege,
- den für die Wahrnehmung der Interessen der Industrie maßgeblichen Bundesverbänden aus dem Bereich der Informationstechnologie im Gesundheitswesen,
- den internationalen Standardisierungsorganisationen sowie
- den für die Wahrnehmung der Interessen der Forschung im Gesundheitswesen maßgeblichen Bundesverbänden.
Hierzu errichtet das Kompetenzzentrum eine Geschäftsstelle. Das bisherige Kuratorium für Klassifikationen im Gesundheitsbereich im Geschäftsbereich des Bundesministeriums für Gesundheit wird mit Aufnahme der Geschäftstätigkeit des Kuratoriums nach S. 1 aufgelöst.
(3) Im Rahmen seiner Aufgabenerfüllung betreibt das Kompetenzzentrum insbesondere ein Lizenzmanagement, die strategische Weiterentwicklung, die Koordination von Änderungen, Beiträge zur Übersetzung und die Information über die medizinischen Terminologien einschließlich des Betriebes zentraler Datenbanken. Dazu gehört auch die Aufgabe, internationale Klassifikationen zu Seltenen Erkrankungen mit den gesetzlichen Diagnoseklassifikationen und Terminologien zu verknüpfen und diese in geeigneter Form herauszugeben. Das Kompetenzzentrum kann dabei mit einzelnen Aufgaben ganz oder teilweise fachkundige Dritte betrauen.
(4) Das Kompetenzzentrum hat dabei internationale Standards einzubeziehen und europäische Interoperabilitätsvereinbarungen zu berücksichtigen.
(5) Zur Gewährleistung der semantischen Interoperabilität haben die Kassenärztliche Bundesvereinigung sowie die Deutsche Krankenhausgesellschaft im Rahmen der Aufgaben nach § 355 die vom Bundesinstitut für Arzneimittel und Medizinprodukte für diese Zwecke verbindlich zur Verfügung gestellten medizinischen Klassifikationen, Terminologien und Nomenklaturen zu verwenden. Das Bundesinstitut für Arzneimittel und Medizinprodukte ergreift insoweit bis zum 1. Januar 2021 die notwendigen Maßnahmen, damit die medizinische Terminologie SNOMED CT sowie die Nomenklatur LOINC kostenfrei für alle Nutzer in der Bundesrepublik Deutschland zur Verfügung steht. Der Nutzerkreis schließt dabei neben den Angehörigen der Heilberufe und den Gesundheitseinrichtungen mindestens auch die Hersteller von Medizinprodukten und die medizinische Forschung ein.
(6) Das Kompetenzzentrum richtet zur Erfassung von Bedarfen und der Koordination der Einführung von Terminologien sowie des Lizenzmanagements Arbeitskreise der Nutzer der nach Abs. 1 beschafften Terminologien und Klassifikationen ein. Es kann mit der Geschäftsführung ganz- oder teilweise geeignete bestehende Selbstorganisationsstrukturen betrauen.
(7) Um einen strukturierten Prozess zu gewährleisten, erstellt das Bundesinstitut für Arzneimittel und Medizinprodukte eine Geschäftsordnung sowie Verfahrensordnung zur Herstellung des Benehmens nach Absatz 2 sowie zum Nutzereinbezug nach Absatz 6. Geschäfts- und Verfahrensordnung bedürfen der Zustimmung des Bundesministeriums für Gesundheit im Benehmen mit dem Bundesministerium für Bildung und Forschung.
Der vorgeschlagene Wortlaut des Abs. 2 spiegelt insofern den Stakeholderkreis des § 255 SGB V neu.
3. § 363 SGB V neu: Verarbeitung von Daten zu Forschungszwecken
Die TMF begrüßt vollumfänglich die vorgesehene freiwillige Datenfreigabe zu wissenschaftlichen Forschungszwecken. Das bisherige Verbot der Datennutzung außerhalb des unmittelbaren Versorgungsgeschehens des § 291a Abs. 8 SGB V hat Patientinnen und Patienten in unserem Land von wichtigen Aspekten des medizinischen Fortschrittes etwa in Hinblick auf die Entwicklung personalisierter Therapien ausgeschlossen, Möglichkeiten zur Versorgungsoptimierungen im Gesundheitswesen ungenutzt gelassen und die internationale Wettbewerbsfähigkeit des Forschungsstandortes beeinträchtigt.
Die in § 363 Abs. 2 S. 3 SGB V neu vorgesehene Möglichkeit der Patientinnen und Patienten, Art und Umfang der Datenfreigabe frei zu wählen und bis auf Dokumentenebene granular auszuwählen, gefährdet allerdings die Validität von später aus solchen unvollständigen Datensätzen gezogenen wissenschaftlichen Schlussfolgerungen. Wir schlagen daher vor, gegenüber den Versicherten im Rahmen der informierten Einwilligung deutlich zu machen, dass anders als im Versorgungskontext mit der pseudonymisierten Datenfreigabe keine personenbeziehbaren Daten Dritten zugänglich werden. Auch sollten im Rahmen der technischen Spezifikation Lösch- und Fehlmarker vorgesehen werden, sodass unvollständige Datensätze als solche bei einer Datenauswertung identifiziert werden können.
Wie in § 363 Abs. 5 SGB V neu beschrieben, kann nur eine Widerrufsmöglichkeit mit Wirkung für die Zukunft der Tatsache Rechnung tragen, dass rückwirkende Löschungen die Dokumentationspflichten nach Guter Wissenschaftlicher Praxis verletzen würden. Auch gilt ein Vertrauensschutz für bereits begonnene Forschungsprojekte, soweit regelmäßig eine nachträgliche Entfernung einzelner Datensätze nur mit unverhältnismäßig hohem Aufwand zu realisieren wäre. Eine entsprechende Aufklärung kann unproblematisch im Zuge der Einholung der informierten Einwilligung als Verarbeitungsvoraussetzung erfolgen.
Da das grundsätzliche Verbot der Offenbarung von ePA-Inhalten außerhalb des Versorgungskontextes in § 335 Abs. 2 SGB V neu vollumfänglich erhalten bleibt und § 363 Abs. 1 SGB V rechtssystematisch nur eine Ausnahme für eine Datenübermittlung an das Forschungsdatenzentrum nach § 303d SGB V eröffnet, ist es wichtig, dass § 363 Abs. 8 SGB V neu auch für weitere Forschungsinfrastrukturen und -vorhaben eine Datennutzung bei vorliegender informierter Einwilligung der Patientinnen und Patienten ermöglicht. Dies ist z. B. Voraussetzung, damit die langjährigen Daten der Routineversorgung auch mit neu erhobenen Daten klinischer Studien etwa zu den Nebenwirkungen eines Impfstoffkanditen in Kombination mit bestimmten Vorerkrankungen zusammengeführt werden können bzw. eilige Studien mit Bedarf an einer hohen Aktualität der Daten (im Vergleich zu Antrags- und Bereitstellungsfristen zentraler Datenpools) eine direkte Datenübernahmemöglichkeit erhalten. Die ursprünglich im Referentenentwurf vorgesehene alleinige Datenbereitstellung über das Forschungsdatenzentrum des Datentransparenzverfahrens hätte zudem grundsätzlich andere öffentlich finanzierte oder durch Patientenorganisationen selbst unterhaltene Forschungsinfrastrukturen von der Datennutzung ausgeschlossen. Auch eine z. B. im gegenwärtigen akuten Pandemiefall auch im Forschungskontext dringend erforderliche internationale Zusammenarbeit wäre wesentlich erschwert. Die nun im Gesetzentwurf vorgesehene Regelung stellt dabei keine zusätzliche eigenständige Verarbeitungsbefugnis dar. Es wird vielmehr die europarechtlich normierte Einwilligung gemäß Artikel 6 Abs. 1 Buchst. a in Verbindung mit Artikel 9 Abs. 2 Buchst. a DSGVO von dem Diskriminierungsverbot des § 335 Absatz 2 SGB V ausgenommen. Jede konkrete Datennutzung auf Basis von § 363 Abs. 8 SGB V neu setzt Ihrerseits eine informierte, individuelle Einwilligung der Versicherten voraus, die z. B. in einem Verfahren nach § 287 a SGB V der vollumfänglichen Datenschutzaufsicht in Hinblick auf die Anforderungen der DSGVO unterliegt und über ein positives Votum der zuständigen Ethik-Kommission verfügen muss.
Von besonderer Bedeutung für die künftige Reaktions- und Lernfähigkeit unseres Gesundheitswesens ist dabei die in Erwägungsgrund 33 zur DSGVO vorgesehene und erst jüngst für die Medizininformatik-Initiative mit der Konferenz der Datenschutzbehörden des Bundes und der Länder abgestimmte s.g. breite Einwilligung für den Bereich der medizinischen Forschung. Entgegen einzelner zuletzt öffentlich geäußerter Bedenken, kann darauf in Hinblick auf die mit der Sekundärdatennutzung verbundene Hoffnung auf zusätzlichen Erkenntnisgewinn nicht verzichtet werden. Viele medizinische Fragestellungen, für die die Daten zukünftig verwendet werden sollen, können zum Zeitpunkt der Einwilligung in eine Datenverarbeitung noch gar nicht feststehen. Gerade das plötzliche Auftreten von COVID-19 und dessen fluide klinische Einordnung - von einer viralen Pneumonie hin zu einer entzündlichen Multiorganerkrankung - zeigen den sich im Verlauf wandelnden Bedarf. Erst die breite Einwilligung eröffnet der medizinischen Forschung hinreichende Chancen, neue, noch nicht absehbare Zusammenhänge zu erkennen und damit die Gesundheitsversorgung deutlich zu verbessern.
III. Weiterer Handlungsbedarf
Unabhängig von der Bereitstellung verbindlicher Terminologien, sind weitergehende Impulse erforderlich, um die Prozesse in der Versorgung hinreichend zu vereinheitlichen und eine hohe Datenqualität sicherzustellen. Strukturierte elektronische Arztbriefe und vergleichbare Laborverläufe sind dabei nicht nur ein Gewinn für die Forschung, sondern entlasten gleichermaßen die behandelnden Ärztinnen und Ärzte und Erhöhen die Patientensicherheit. Wir regen hierzu an, ein Bundesprogramm zur Optimierung der Abläufe der Primärdokumentation aufzulegen, in dem auch die Ausbildung und Anstellung von Data Curation Scientists gefördert wird. In Anlehnung an den Hightech-Act in den USA sollte die Mittelzuwendung an das Erreichen von konkreten Interoperabilitäts- und Versorgungszielen („meaningful use“), z. B. durchgängige digitale Laborprozesse mittels der Nomenklatur LOINC, gekoppelt werden.
Zur Gewährleistung einer zukünftig vertieften strukturierten Dokumentation sollte diese angesichts der anfänglichen Mehraufwände gezielt monetär incentiviert werden und so auch ein Entwicklungsanreiz für ihrerseits KI-basierte Assistenzsysteme gesetzt werden. Später wäre in Aufrechnung des gesamtgesellschaftlichen Mehrwertes und des Effizienzgewinns im Gesundheitssystem eine Kompensation der Restkosten bei Pönalisierung von Schlechtleistung im Zuge des Datenqualitätsmonitorings vorzusehen.
KI-Routinen, die ohne Kenntnis der Datenentstehung vor Ort („Ground truth“) an solchen Daten mit Bias oder tatsächlich unzureichender Vergleichbarkeit trainiert werden, werden zu falschen Therapieentscheidungen führen. Daher ist die Rückverfolgbarkeit der einzelnen Daten von entscheidender Bedeutung. Wir regen daher die Errichtung eines zentralen Registers für KI-Routinen und zugehörigen Lerndaten in der Medizin an. Denkbar wäre auch, an dieser Stelle frei verfügbare anonymisierte Scientific Use Files etwa zur Nutzung durch Start-Ups in zugangsgeschützten sicheren Umgebungen vorzuhalten.
Entscheidend für die Akzeptanz der zukünftigen Forschungsdatennutzungen ist ein Höchstmaß an Transparenz. So haben sich die Beteiligten der Medizininformatik-Initiative auf den Aufbau eines zentrales Onlineangebotes verständigt, das die Öffentlichkeit vorab über alle konkreten medizinischen Forschungsvorhaben informiert, die mit den Patientendaten durchgeführt werden, und den Patientinnen und Patienten ggf. die Grundlage für eine Ausübung ihre Rechtes auf Widerruf der erteilten Einwilligung bieten kann. Wir schlagen weitergehend den Aufbau einer nationalen Forschungstransparenzstelle vor, in der nicht nur alle mit Routinedaten der Patientenversorgung laufenden Forschungsvorhaben dokumentiert werden, sondern auch (Zwischen-)Ergebnisse sowohl in fachlicher als auch laienverständlichen Weise verfügbar gemacht werden.