Stellungnahme der TMF zum Referentenentwurf eines Gesetzes zum Schutz elektronischer Patientendaten in der Telematikinfrastruktur (Patientendaten-Schutzgesetz – PDSG)
Berlin, 25. Februar 2020. Umfang der Kommentierung: Die vorliegende Stellungnahme der TMF bezieht sich in Abschnitt II ausschließlich auf die für die medizinische Forschung relevanten Sachverhalte des vorliegenden Referentenentwurfes.
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TMF – Technologie- und Methodenplattform für die vernetzte medizinische Forschung e. V.
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Sebastian C. Semler
Geschäftsführer
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sebastian.semler@tmf-ev.de
Über die TMF
Die TMF - Technologie- und Methodenplattform für vernetzte medizinische Forschung e. V. (kurz: TMF) ist mit gegenwärtig 64 Mitgliedern und ihren über einhundert Standorten bundesweit die Dachorganisation für die medizinische Verbundforschung in Deutschland. Sie ist Plattform für den interdisziplinären Austausch und die projekt- wie standortübergreifende Zusammenarbeit, um organisatorische, rechtlich-ethische und technologische Probleme der modernen medizinischen Forschung zu identifizieren und zu lösen. Die als gemeinnützig anerkannte TMF stellt diese Lösungen frei und öffentlich zur Verfügung. Mit dem Aufbau tragfähiger Infrastrukturen für die medizinische Forschung leistet die TMF einen Beitrag zur Stärkung des Wissenschaftsstandortes Deutschland im europäischen wie internationalen Wettbewerb.
I. Zum Gesetzentwurf allgemein
Die Digitalisierung hat das Potential, unser Gesundheitssystem nachhaltig zu transformieren: Kein Dokument geht verloren, Informationen sind transparent, Doppeluntersuchungen entfallen, Leistungserbringer bekommen einen schnellen Überblick über die Patienten, so dass Diagnosestellung und Therapie zügiger und passgenauer erfolgen können. Neue digitale Gesundheitsanwendungen ermögliche eine evidenzbasierte Prävention und Nachsorge im häuslichen Umfeld. Versorgung kann dadurch insgesamt besser, schneller und zielgerichteter erfolgen. Derzeit liegen die Daten und Informationen meist verstreut und unzugänglich in verschiedenen Kliniken und Forschungsinstitutionen vor. Eine intelligente Datennutzung scheitert häufig ebenso an uneinheitlichen Datenformaten und Standards wie auch einer allzu oft unstrukturierten Dokumentation im ärztlichen und klinischen Alltag. Das ist zuvorderst ein ernsthaftes Problem der Effizienz und für die Patientensicherheit in der Versorgung. Große Chancen liegen darüber hinaus im engen Zusammenspiel von Versorgung und Forschung. Diagnostik und Behandlung können durch datenbasierte Versorgungsforschung kontinuierlich überprüft und optimiert werden. Erkrankungen können früher erkannt werden, um sie besser bekämpfen zu können. Und neue Präventionsansätze können verhindern, dass Erkrankungen überhaupt erst zur Ausprägung gelangen. Durch die Zusammenführung großer Datenmengen der Routineversorgung wird es künftig möglich sein, neue ursächliche Krankheitszusammenhänge zu erkennen, optimale Behandlungsstrategien zu entwickeln und KI-Anwendungen an qualitätsgesicherten Lerndatenkörpern so zu trainieren, dass diese Ärztinnen und Ärzte im Versorgungsalltag optimal unterstützen können.
Daher begrüßt die TMF - Technologie- und Methodenplattform für vernetzte medizinische Forschung e. V. (kurz: TMF) die mit dem vorliegenden Gesetzentwurf verfolgte Konsolidierung der einschlägigen Digitalisierungsnormen des SGB V in dezidierten eigenen Zukunftskapiteln wie auch die vorgesehenen zusätzlichen Transformationsimpulse. Entscheidend für den Forschungs- und Wirtschaftsstandort sind dabei Verfügbarkeit, Verknüpfbarkeit und Verwertbarkeit der in der zukünftigen elektronischen Patientenakte (ePA) enthaltenen Informationen.
Die mit dem vorliegenden Entwurf beabsichtigte zentrale Bereitstellung medizinischer Terminologien ermöglicht erstmals eine sektorübergreifende und über einzelne Verbundprojekte hinausgehende nationale Interoperabilität in der Medizin. Dies ermöglicht neue Auswertungen und Erkenntnisprozesse in der Forschung. Wir müssen uns dabei von den Papieranalogien lösen: Wenn Deutschland als Forschungs- und Entwicklungsstandort eine gute Rolle spielen soll, wenn Patientinnen und Patienten nicht nur durch ein Weniger an Bürokratie, sondern eben vor allem durch ein Mehr an Gesundheit von der Digitalisierung profitieren sollen, dann muss die ePA mehr sein als eine elektronische Blattsammlung. Wichtig ist, die Auswahl der Terminologien an den Anforderungen aller Stakeholder zu orientieren. Dabei ist neben grenzübergreifenden Versorgungsfällen insbesondere auch die Anschlussfähigkeit zur internationalen Forschungscommunity sicherzustellen.
Um das Potential der Digitalisierung tatsächlich umfassend nutzen zu können, braucht es jedoch mehr als technische IT-Lösungen. Forschung und Versorgung müssen künftig noch enger zusammenarbeiten. Es braucht eine neue Kultur der Datenteilung und der gemeinsam gelebten Verantwortung für die Datenqualität.
Ein zentraler Erfolgsfaktor für das „Data Sharing“ ist die forschungskompatible elektronische Patientenakte. Mit ihr können die Daten zwischen den Behandelnden geteilt werden. Zugleich könnten sie mit Zustimmung der Patientinnen und Patienten für wissenschaftliche Analysen zur Verfügung stehen. Viel zu viele Informationen zu Krankheitsverläufen, Erfolgen und Misserfolgen unterschiedlicher Therapien schlummern heute noch ungenutzt auf Papier, in inkompatiblen Computerprogrammen oder in den Köpfen weniger Expertinnen und Experten. Wenn – mit Zustimmung der Patienten – diese vielzähligen vorhandenen Informationen sektorenübergreifend verfügbar und nutzbar gemacht werden können, können große Fortschritte in der Erforschung und Bekämpfung von Krankheiten erreicht werden. Die Erschließung der Routinedaten der Krankenversorgung für die Zwecke der medizinischen Forschung in einem lernenden Gesundheitssystem steht dabei im besonderen Interesse des Gemeinwohls. Zu Recht hat die Datenethikkommission der Bundesregierung in ihrem Abschlussbericht auf die ethischen Konsequenzen einer unterlassenen Nutzung vorhandener Daten zum Zwecke des medizinischen Fortschrittes hingewiesen.
Eine solche forschungskompatible ePA muss intersektoral aufgebaut sein und dabei über die einheitliche Anwendung internationaler Standards die Vergleichbarkeit der enthaltenen Daten gewährleisten. Die Inhalte der ePA müssen in strukturierter Form vorliegen, sodass diese für die datengestützte Analyse großer Patientenkohorten zur Verfügung stehen. Bestehende Prozesse der sektoralen Leistungserbringer müssen in Hinblick auf die Qualität der in die ePA zu überführenden Daten überprüft und durchgängig digitalisiert werden. Bestehende Dokumentationslücken müssen geschlossen und notwendiger Kontext vertikal ergänzt werden. Auch zusätzliche Möglichkeiten der Integration der Selbstbeobachtung der Patientinnen und Patienten in Form von Patient-Reported Outcome (PRO) in den Behandlungszyklus sind zu schaffen und bringen die Patientinnen und Patienten in eine weitaus aktivere Rolle in Bezug auf die eigene Therapietreue. In der Summe wirkt die forschungskompatible ePA transformierend auf das Gesundheitssystem insgesamt.
Um medizinische Daten für die Forschung deutschlandweit nutzbar zu machen, hat das BMBF bereits 2015 mit der Medizininformatik-Initiative (MII) ein langfristig angelegtes und modular aufgebautes Förderkonzept zur Medizininformatik ins Leben gerufen. Bereits gegenwärtig arbeiten in der MII alle Universitätsklinika Deutschlands an über 30 Standorten gemeinsam mit weiteren außeruniversitären Forschungseinrichtungen und Industriepartnern daran, Routinedaten der Krankenversorgung deutschlandweit für die medizinische Forschung zu erschließen. Dazu bauen die in vier Konsortien organisierten Standorte Datenintegrationszentren auf und entwickeln Lösungen für über ein Dutzend konkrete Anwendungsfälle. Das BMBF investiert allein bis zum Jahr 2021 rund 160 Millionen Euro in das Förderprogramm. Die vom BMBF für die MII bereits für den kommenden Monat angestrebte Einführung einer SNOMED CT-Lizenz ist ein Beispiel dafür, wie es gelingen kann, internationale Anschlussfähigkeit sicherzustellen und im Gegenzug internationale Standards mitzuprägen. Die Medizininformatik-Initiative ist hier Vorreiterin in Deutschland (z. B. im Zuge des öffentlichen Kommentierungsverfahrens zu den Fachmodulen des MII-Kerndatensatzes). Das Know-how der MII sollte in der konkreten Ausgestaltung der Datenspende und der Festlegung der zukünftigen Interoperabilitätsstandards Berücksichtigung finden.
Es ist richtig und wichtig, dass im vorliegenden Gesetzentwurf die Autonomie der Patientinnen und Patienten durch die Schaffung individueller Ansprüche auf Dateneinstellung in die ePA und einer patientenzentrierten elektronischen Aktenführung gestärkt wird. Zugleich ist freilich auch der Bedarf der Forschung an möglichst vollständigen Daten, um sich ein realistisches Bild von Erkrankungsverläufen, Komorbiditäten und geeigneten Therapie- und Versorgungskonzepten machen zu können, angemessen in die Ausgestaltung der konkreten „Datenspende“ einzubeziehen. So ist es notwendig, im Rahmen von Digital-Health-Literacy-Aufklärungskampagnen die Patientinnen und Patienten insbesondere auch über das hohe Niveau des Datenschutzes im Bereich der Forschung zu informieren und auf die Bedeutung einer möglichst vollständigen Datenbereitstellung hinzuweisen.
II. Zu den Regelungen im Einzelnen
Auf einen Blick
- Diskriminierungsfreien ePA-Zugang für einwilligungsbasierte Forschungsvorhaben in § 354 Abs. 2 Nr. 5 SGB V neu und § 355a SGB V neu sicherstellen
- Stakeholder in die technische Spezifikation der zukünftigen Forschungsdatenschnittstelle nach § 354 Abs. 2 Nr. 5 SGB V neu einbeziehen
- Forschungsnutzen der Datenspende aus der ePA nach § 363 SGB V neu durch nachgelagerte Anonymisierung von personenbezogenen Dokumenten und Möglichkeit der Verknüpfung mit Abrechnungsdaten erhöhen
- Transparenz der Forschungsdatennutzungen für die Patientinnen und Patienten sicherstellen und geeignete Informationsangebote schaffen
- Kompetenzzentrum für medizinische Terminologien nach § 355 Abs.2 SGB V durch Communityeinbezug stärken und klare Verfahren etablieren
1. § 354 Abs. 2 Nr. 5 SGB V neu: Festlegungen der Gesellschaft für Telematik für die elektronische Patientenakte
Wir begrüßen nachdrücklich das mit § 354 Abs. 2 Nr. 5 SGB V erneut aufgegriffene und zeitlich im Vergleich zum Referentenentwurf des DVG vorverlagerte Ziel, die in der ePA gespeicherten Patientendaten für Forschungszwecke technisch zu erschließen. Dies spiegelt den Auftrag zur Einführung einer forschungskompatiblen elektronischen Patientenakte aus der gemeinsamen Hightech-Strategie der Bundesregierung.
Soweit das Gesetz der Gesellschaft für Telematik die Aufgabe zur Schaffung der technischen Voraussetzungen einer Forschungsdatenausleitung aus der elektronischen Patientenakte zuweist, sollte diese auf gesetzlicher Grundlage die tatsächlichen Bedarfe der medizinischen Forschung in der Erstellung der einschlägigen Spezifikationen berücksichtigen. Es gilt zu vermeiden, dass die entstehende Schnittstelle inkompatibel zu bereits bestehenden oder im Aufbau befindlichen öffentlich geförderten Infrastrukturen wie die der Medizininformatik-Initiative steht, unangemessene Investitionskosten und organisatorische Anforderungen auslöst oder ein Informationsverlust durch die Verwendung nicht standard-konformer Protokolle eintritt. Um dies zu gewährleisten, ist eine enge Abstimmung mit den zur Wahrnehmung der Interessen der Forschung im Gesundheitswesen maßgeblichen Bundesverbänden erforderlich. Dazu muss die Forschungsperspektive auf allen Entscheidungsebenen und bei allen Entwicklungsschritten eng eingebunden werden.
Neben der Möglichkeit der Datenspende in das Forschungsdatenzentrum nach § 363 SGB V neu, ist im Zuge der technischen Spezifikation der zukünftigen Forschungsdatenschnittstelle sicherzustellen, dass diese grundsätzlich auch geeignet ist, Daten an weitere rechtmäßige Datenverarbeiter zu übermitteln, denen die Patientinnen und Patienten etwa auf Grundlage einer informierten Einwilligung für besondere Forschungsvorhaben einen Zugriff auf die in der ePA abgelegten Informationen eingeräumt haben (vgl. dazu auch im Weiteren 3. zu § 363 SGB V neu: Datenspende ) oder deren Verarbeitung eine andere gültige Rechtsgrundlage hat.
Wir schlagen daher vor, § 354 Abs. 2 Nr. 5 SGB V neu wie folgt neu zu fassen:
„- bis zum 30. Juni 2021 im Benehmen mit den für die Wahrnehmung der Interessen der Forschung im Gesundheitswesen maßgeblichen Bundesverbänden die Festlegungen dafür zu treffen, dass die Versicherten gemäß § 363 Daten, die in der elektronischen Patientenakte nach § 341 Absatz 2 gespeichert sind, für die Nutzung zu wissenschaftlichen Forschungszwecken zur Verfügung stellen und diese übermittelt werden können. Dabei ist ein diskriminierungsfreier Zugang aller rechtmäßigen Datenverarbeiter sicherzustellen.
Mit Inkrafttreten des Terminservice- und Versorgungsgesetzes (TSVG) am 11. Mai 2019 hat die Kassenärztliche Bundesvereinigung auf Grundlage von § 291b Abs. 1 Satz 7ff SGB V damit begonnen, die semantischen und syntaktischen Festlegungen der s.g. Medizinischen Informationsobjekte (MIO) als Inhalte der elektronischen Patientenakte zu definieren. Der Wortlaut der Vorschrift stellt allerdings gegenwärtig nicht sicher, dass die so definierten MIOs Datenstrukturen enthalten, die nicht nur technisch über die zu schaffende Schnittstelle für Forschungszwecke ausgeleitet werden, sondern auch tatsächlich für Forschungszwecke nutzbar gemacht werden können. Hierzu müssen die in der elektronischen Patientenakte enthaltenen MIOs weit über ein elektronisches Abbild („PDF als Fax des 21. Jahrhunderts“) bisheriger Papierdokumente hinausgehend
- internationale Terminologien in hinreichend breiten Kerndatensätzen nutzen,
- eine detaillierte, präzise und qualitätsgesicherte Annotierung ermöglichen
- und die deutschlandweit einrichtungsübergreifende einheitliche Verwendung erforderlicher Metadaten vorschreiben.
Wenngleich die Kassenärztliche Bundesvereinigung bereits gegenwärtig eine forschungskompatible Ausgestaltung aller MIOs anstrebt, schlagen wir mit Blick auf etwaige Ressourcenkonkurrenzen mit anderen gesetzlichen Fristsetzungen vor, in den Wortlaut von § 355 Abs. 2 SGB V neu das Ziel der Forschungskompatibilität in Hinblick auf § 354 Abs. 2 Nr. 5 SGB V aufzunehmen:
„Die Kassenärztliche Bundesvereinigung hat dabei internationale Standards einzubeziehen und die Festlegungen nach § 31a Absatz 4 und 5 sowie die Festlegungen zur Verfügbarmachung von elektronischen Notfalldaten zu berücksichtigen sowie in Abstimmung mit den für die Wahrnehmung der Interessen der Forschung im Gesundheitswesen maßgeblichen Bundesverbänden die Forschungskompatibilität in Hinblick auf § 354 Abs. 2 Nr. 5 SGB V zu gewährleisten. (…)“
Der Terminus Forschungskompatibilität greift dabei die bereits in der Hightech-Strategie der Bundesregierung eingeführte Begrifflichkeit auf.
2. § 355 Abs. 2 SGB V neu: Terminologien
Wir begrüßen die beabsichtigte nationale Bereitstellung geeigneter Terminologie-Lizenzen durch das Bundesinstitut für Arzneimittel und Medizinprodukte. Das Fehlen entsprechender Lizenzen und der erforderlichen Bereitstellung nationaler Datenbanken hemmt gegenwärtig die Interoperabilität im Gesundheitswesen. Insbesondere standortübergreifende Forschungsvorhaben sehen sich mit einer Vielzahl unterschiedlicher proprietärer Datenstandards und historisch gewachsener Dialekte gegenüber. Auch ist die sinnvolle Auswertung freitextlicher Dokumente entweder gar nicht oder nur mit wesentlich erhöhten Aufwänden möglich. Die zu beschaffenden Terminologie-Lizenzen müssen daher auch durch Forschende unabhängig von der Rechtsform und insbesondere unabhängig von der Zugehörigkeit zu einem Heilberuf oder einer Institution der Krankenversorgung nutzbar sein.
Wir begrüßen auch die vorgesehene gesetzliche Verpflichtung zur Nutzung der Terminologien und Nomenklaturen seitens der mit der Definition der Inhalte der zukünftigen ePA betrauten Körperschaften, wenngleich die Kassenärztliche Bundesvereinigung im engen Dialog u.a. mit der Medizininformatik-Initiative erfreulicherweise bereits ohne entsprechende Verpflichtung damit begonnen hat, ausschließlich international anschlussfähige Terminologien und Nomenklaturen als Grundlage der Medizinischen Informationsobjekte zu nutzen. Ähnlich äußerte sich auch die Geschäftsführung der gematik.
Angesichts der Bedeutung der langfristigen Entscheidung für oder gegen eine national und intersektoral einzusetzenden Terminologie oder Nomenklatur und den sich daraus ergebenden weitreichenden Investitionsentscheidungen sollten allerdings zumindest keine geringeren Mitwirkungsrechte der betroffenen Interessen im Gesundheitswesen gelten, als für die Definition der Inhalte der elektronischen Patientenakte durch die Kassenärztliche Bundesvereinigung bzw. die Deutsche Krankenhausgesellschaft vorgesehen. Eine Geschäftsordnung, die der Zustimmung des BMG und des BMBF bedarf, sollte neben Fristen auch das Verfahren des Einbezuges des neu geordneten Kuratoriums insbesondere in Fragen der Lizenzbeschaffung und Lizenzverwaltung sowie des Betriebes notwendiger Infrastrukturen wie z. B. Terminologieservern regeln. Mit Blick auf die Wesentlichkeitstheorie regen wir zudem an, den Aufgabenkatalog des zu errichtenden Kompetenzzentrums aus der Begründung des vorliegenden Referentenentwurfes in den Gesetzestext zu verschieben. Schließlich sollte mittels der Errichtung geeigneter Arbeitskreise eine enge sektorenübergreifende Rückkopplung mit den Nutzern der beschafften Lizenzen sichergestellt werden.
Wir schlagen daher vor, die Regelungen zur Errichtung eines nationalen Kompetenzzentrums für medizinische Terminologien in einen eigenständigen § 355a neu zu verlagern und weiter auszugestalten:
§ 355a Errichtung und Aufgaben des nationalen Kompetenzzentrums für medizinische Terminologien
(1) Das Bundesinstitut für Arzneimittel und Medizinprodukte errichtet bis zum 1. Januar 2021 ein nationales Kompetenzzentrum für medizinische Terminologien.
(2) Die Kompetenzzentrum für medizinische Terminologien trifft die notwendigen Festlegungen und Maßnahmen zur Bereitstellung geeigneter medizinischer Terminologien im Benehmen mit einem Kuratorium für Klassifikationen und Terminologien im Gesundheitsbereich, bestehend aus
- der Gesellschaft für Telematik,
- den Spitzenorganisationen nach § 306 Absatz 1 Satz 1,
- den maßgeblichen, fachlich betroffenen medizinischen Fachgesellschaften,
- der Bundespsychotherapeutenkammer,
- den maßgeblichen Bundesverbänden der Pflege,
- den für die Wahrnehmung der Interessen der Industrie maßgeblichen Bundesverbänden aus dem Bereich der Informationstechnologie im Gesundheitswesen,
- den internationalen Standardisierungsorganisationen sowie
- den für die Wahrnehmung der Interessen der Forschung im Gesundheitswesen maßgeblichen Bundesverbänden.
Hierzu errichtet das Kompetenzzentrum eine Geschäftsstelle. Das bisherige Kuratorium für Klassifikationen im Gesundheitsbereich im Geschäftsbereich des Bundesministeriums für Gesundheit wird mit Aufnahme der Geschäftstätigkeit des Kuratoriums nach S. 1 aufgelöst.
(3) Im Rahmen seiner Aufgabenerfüllung betreibt das Kompetenzzentrum insbesondere ein Lizenzmanagement, die strategische Weiterentwicklung, die Koordination von Änderungen, Beiträge zur Übersetzung und die Information über die medizinischen Terminologien einschließlich des Betriebes zentraler Datenbanken. Dazu gehört auch die Aufgabe, internationale Klassifikationen zu Seltenen Erkrankungen mit den gesetzlichen Diagnoseklassifikationen und Terminologien zu verknüpfen und diese in geeigneter Form herauszugeben. Das Kompetenzzentrum kann dabei mit einzelnen Aufgaben ganz oder teilweise fachkundige Dritte betrauen.
(4) Das Kompetenzzentrum hat dabei internationale Standards einzubeziehen und europäische Interoperabilitätsvereinbarungen zu berücksichtigen.
(5) Zur Gewährleistung der semantischen Interoperabilität haben die Kassenärztliche Bundesvereinigung sowie die Deutsche Krankenhausgesellschaft im Rahmen der Aufgaben nach § 355 die vom Bundesinstitut für Arzneimittel und Medizinprodukte für diese Zwecke verbindlich zur Verfügung gestellten medizinischen Klassifikationen, Terminologien und Nomenklaturen zu verwenden. Das Bundesinstitut für Arzneimittel und Medizinprodukte ergreift insoweit bis zum 1. Januar 2021 die notwendigen Maßnahmen, damit die medizinische Terminologie SNOMED CT sowie die Nomenklatur LOINC kostenfrei für alle Nutzer in der Bundesrepublik Deutschland zur Verfügung steht. Der Nutzerkreis schließt dabei neben den Angehörigen der Heilberufe und den Gesundheitseinrichtungen mindestens auch die Hersteller von Medizinprodukten und die medizinische Forschung ein.
(6) Das Kompetenzzentrum richtet zur Erfassung von Bedarfen und der Koordination der Einführung von Terminologien sowie des Lizenzmanagements Arbeitskreise der Nutzer der nach Abs. 1 beschafften Terminologien und Klassifikationen ein. Es kann mit der Geschäftsführung ganz- oder teilweise geeignete bestehende Selbstorganisationsstrukturen betrauen.
(7) Um einen strukturierten Prozess zu gewährleisten, erstellt das Bundesinstitut für Arzneimittel und Medizinprodukte eine Geschäftsordnung sowie Verfahrensordnung zur Herstellung des Benehmens nach Absatz 2 sowie zum Nutzereinbezug nach Absatz 6. Geschäfts- und Verfahrensordnung bedürfen der Zustimmung des Bundesministeriums für Gesundheit im Benehmen mit dem Bundesministerium für Bildung und Forschung.
Der vorgeschlagene Wortlaut des Abs. 2 spiegelt insofern den Stakeholderkreis des § 255 SGB V neu.
3. § 363 SGB V neu: Datenspende
Wir unterstützen das Bemühen des Gesetzentwurfes, eine tragfähige Rechtsgrundlage für die freiwillige Datenfreigabe zu wissenschaftlichen Forschungszwecken (Datenspende) zu schaffen. Problematisch erscheint uns allerdings die obligate Überführung der Datenspende in das Datentransparenzverfahren für Abrechnungsdaten nach § 303d SGB V:
- Fraglich erscheint, ob mittels des in § 363 Abs. 3 SGB V neu lediglich abstrakt beschriebenen Pseudonymisierungsverfahrens eine Verknüpfung zwischen den Abrechnungsdaten aus dem Verfahren nach § 303d SGB V und den Versorgungsdaten aus § 363 SGB V neu praktisch möglich ist. Wir schlagen vor, zu prüfen, ob angesichts des erheblich größeren Erkenntniswertes eine im Einzelfall zu begründende und auf den Nutzerkreis des Datentransparenzverfahrens nach § 303d SGB V begrenzte Datenverknüpfung umsetzbar ist. Denkbar wäre hierzu sowohl die Verwendung eines einheitlichen Pseudonymisierungsalgorithmus, der durch einen besonders geschützten Treuhänder an zentraler Stelle vorgehalten wird, als auch eine frühzeitige Übergabe der Datenspenden aus der ePA in das Datentransparenzverfahren bereits auf Ebene der einzelnen aktenführenden Krankenkasse.
Der Nutzerkreis des Forschungsdatenzentrums nach § 303d SGB V schließt eine Nutzung der „Datenspenden“ nach § 363 SGB V neu durch kommerzielle Nutzergruppen aus. Damit verfügen universitäre Ausgründungen, Start-Ups, aber auch translationale Kooperationsprojekte mit Unternehmen, die konkrete Therapieinnovationen entwickeln, weiterhin über keine nationale Datengrundlage aus dem breiten Versorgungsgeschehen. Auch entstehen im Sinne der Normenklarheit erhebliche Probleme in Hinblick auf die Abgrenzung des Begriffs der kommerziellen Verwertung von Forschungsergebnissen durch Universitäten und außeruniversitäre Forschungsinstitutionen selbst. Beides gefährdet die Wettbewerbsfähigkeit des Wissenschafts- und Wirtschaftsstandortes Deutschland.
Fraglich ist, ob die gewählte Begrenzung des Nutzerkreises der nach § 363 SGB V neu bereitgestellten „Datenspenden“ auf die Beteiligten des Datentransparenzverfahrens auch sachlich geboten ist. Während das Verfahren nach §303d SGB V eine automatische Datenübermittlung der Abrechnungsdaten zum Zwecke eines vollständigen Überblickes des Versorgungsgeschehens im Rahmen der Versorgungsforschung und für Steuerungsaufgaben in der gesetzlichen Krankenversicherung vorsieht, können im Zuge der zukünftigen Datenspende die Patientinnen und Patienten gerade eine freiwillige Zustimmung zu einer Forschungsdatennutzung erteilen. Mithin wäre dem Gesetzgeber eine erweiterte Güterabwägung zwischen der Begrenzung der Nutzungsberechtigten und der damit erhöhten Datensicherheit auf der einen Seite und den Chancen für die Versorgungsqualität durch eine schnellere Translation mittels Kooperation in der Entwicklung innovativer digitaler Gesundheitsanwendungen, sicherer Medizintechnik und neuer Therapien und Medikamente sowie der internationalen Wettbewerbsfähigkeit des Forschungsstandortes auf der anderen Seite, möglich, wenn nicht sogar ethisch geboten. Wir regen an, diese bereits im Zuge der Arbeit der Datenethikkommission der Bundesregierung und der Enquete-Kommission „Künstliche Intelligenz – Gesellschaftliche Verantwortung und wirtschaftliche, soziale und ökologische Potenziale“ des Deutschen Bundestags begonnene Diskussion anhand des vorliegenden Gesetzentwurfes im parlamentarischen Raum fortzusetzen.
- Die in § 363 Abs. 2 S. 2 SGB V neu vorgesehene Beschränkung der Forschungsdatenausleitung aus der ePA in das Datentransparenzverfahren auf Dokumente, die über keinen Personenbezug verfügen, ist nicht sachgerecht, da so wesentliche Erkenntnisquellen wie Bildgebung, Entlassschreiben und Laborberichte zumindest bis zur Einführung entsprechender forschungskompatibler Medizinischer Informationsobjekte (MIOs) der Forschungsnutzung entzogen blieben. Wir regen daher an, dass das Forschungsdatenzentrum mittels technisch-organisatorischer Vorkehrungen sicherstellt, dass ein gegebener Personenbezug vor der Datennutzung vollständig entfernt wird. Entsprechend wäre § 363 Abs. 2 S. 2 SGB V neu zu streichen.
- Die in § 363 Abs. 2 S. 3 SGB V neu vorgesehene Möglichkeit der Patientinnen und Patienten, Art und Umfang der Datenfreigabe frei zu wählen und bis auf Dokumentenebene granular auszuwählen, ist in Hinblick auf die Vollständigkeit von Daten und damit der Validität der Forschungsergebnisse höchst problematisch und nicht sachgerecht. Wir schlagen daher vor, im Forschungskontext auf eine feingranulare Dokumentenfreigabe zu verzichten, da gerade keine personenbeziehbaren Daten Dritten zugänglich werden. Mindestens sind zumindest Lösch- und Fehlmarker zu setzen, sodass unvollständige Datensätze als solche bei einer Datenauswertung identifiziert werden können. Auch sollte in dem zukünftigen Datenspendedialog der ePA-Benutzeroberfläche(n) die vollständige Datenfreigabe als Regelfall erkennbar sein, um potentielle Datenspenderinnen und Datenspender nicht durch eine z.T. nicht gewünschte Vielzahl an Optionen von einer Datenspende abzuschrecken¹.
Da das grundsätzliche Verbot der Offenbarung von ePA-Inhalten außerhalb des Versorgungskontextes in § 335 Abs. 2 SGB V neu vollumfänglich erhalten bleibt und § 363 Abs. 1 SGB V rechtssystematisch nur eine Ausnahme „für Zwecke der wissenschaftlichen Forschung“ eröffnet, die aber in Abs. 2 und 3 konkret auf das Verfahren der Datenspende in das Datentransparenzverfahren eingeschränkt wird, sind im vorliegenden Referentenentwurf andere Forschungsvorhaben und -infrastrukturen von einer Datennutzung über die Forschungsschnittstelle der ePA ausgeschlossen. Dies gilt selbst dann, wenn diese ihrerseits über höherwertigere Rechtsgrundlagen wie eine informierte Einwilligung der Patientinnen und Patienten verfügen und öffentlich finanziert werden oder durch Patientenorganisationen selbst unterhalten werden. Es ist sicherzustellen, dass die nun im SGB V zu schaffende sozialgesetzliche Regelung eine einwilligungsbasierte direkte Datenübernahme aus der ePA etwa für Einzelstudien mit besonderen Notwendigkeiten der Datenintegration, der Aktualität der Daten (im Vergleich zu Antrags- und Bereitstellungsfristen zentraler Datenpools) oder der Zeitreihenbildung rechtlich nicht ausschließt.
Wir schlagen daher vor zu prüfen, ob eine Ergänzung eines S. 2 in Abs. 2
„Die Einwilligung in weitere Forschungsvorhaben als rechtmäßige Verarbeitungsgrundlage nach Art. 6 Abs. 1 UAbs. 1 Buchst. a DSGVO-EU bleibt hiervon unberührt.“
geeignet wäre, eine Diskriminierung bestehender und zukünftiger einwilligungsbasierter Forschungsvorhaben auszuschließen.
Die in § 363 Abs. 5 SGB V neu beschriebene Widerrufsmöglichkeit mit Wirkung für die Zukunft trägt adäquat der Tatsache Rechnung, dass eine rückwirkende Löschung Dokumentationspflichten nach Guter Wissenschaftlicher Praxis sowie das Konzept einer „trustworthy KI“ verletzen würde. Auch gilt ein Vertrauensschutz für bereits begonnene Forschungsprojekte, soweit regelmäßig eine nachträgliche Entfernung einzelner Datensätze nur mit unverhältnismäßig hohem Aufwand zu realisieren wäre.
Die Verordnungsermächtigung nach Abs. 6 sollte das BMG aufgrund der Bedeutung des Verordnungsgegenstandes für die wissenschaftliche Forschung nur im Benehmen mit dem BMBF ausüben können.
Die Datenfreigabe über die Benutzeroberfläche der ePA stellt eine hinreichend niedrigschwellige Möglichkeit der Zustimmung der Patientinnen und Patienten dar. Es sollte zudem verpflichtend auf dem Verordnungswege eine dezidierte Forschungsinformationsstelle mit notwendigen Informationsangeboten betraut werden.
Es sollte zur Transparenz der Datennutzung und zum frühzeitigen Einbezug der Betroffenen ein Register der Forschungsdatennutzungen geführt werden. Diese sollte über ein öffentlich zugängliches Portal sowie die Benutzeroberfläche(n) der ePA erreichbar sein.
III. Weiterer Handlungsbedarf
Unabhängig von der Bereitstellung verbindlicher Terminologien, sind weitergehende Impulse erforderlich, um die Prozesse in der Versorgung hinreichend zu vereinheitlichen und eine hohe Datenqualität sicherzustellen. Strukturierte elektronische Arztbriefe und vergleichbare Laborverläufe sind dabei nicht nur ein Gewinn für die Forschung, sondern entlasten gleichermaßen die behandelnden Ärztinnen und Ärzte und Erhöhen die Patientensicherheit. Wir regen hierzu an, ein Bundesprogramm zur Optimierung der Abläufe der Primärdokumentation aufzulegen, in dem auch die Ausbildung und Anstellung von Data Curation Scientists gefördert wird. In Anlehnung an den Hightech-Act in den USA sollte die Mittelzuwendung an das Erreichen von konkreten Interoperabilitäts- und Versorgungszielen („meaningful use“), z. B. durchgängige digitale Laborprozesse mittels der Nomenklatur LOINC, gekoppelt werden.
Zur Gewährleistung einer zukünftig vertieften strukturierten Dokumentation sollte diese angesichts der anfänglichen Mehraufwände gezielt monetär incentiviert werden und so auch ein Entwicklungsanreiz für ihrerseits KI-basierte Assistenzsysteme gesetzt werden. Später wäre in Aufrechnung des gesamtgesellschaftlichen Mehrwertes und des Effizienzgewinns im Gesundheitssystem eine Kompensation der Restkosten bei Pönalisierung von Schlechtleistung im Zuge des Datenqualitätsmonitorings vorzusehen.
KI-Routinen, die ohne Kenntnis der Datenentstehung vor Ort („Ground truth“) an solchen Daten mit Bias oder tatsächlich unzureichender Vergleichbarkeit trainiert werden, werden zu falschen Therapieentscheidungen führen. Daher ist die Rückverfolgbarkeit der einzelnen Daten von entscheidender Bedeutung. Wir regen daher die Errichtung eines zentralen Registers für KI-Routinen und zugehörigen Lerndaten in der Medizin an. Denkbar wäre auch, an dieser Stelle frei verfügbare anonymisierte Scientific Use Files etwa zur Nutzung durch Start-Ups in zugangsgeschützten sicheren Umgebungen vorzuhalten.
Entscheidend für die Akzeptanz der zukünftigen Forschungsdatenspende ist ein Höchstmaß an Transparenz. In Erweiterung der vorgeschlagenen Forschungsinformationsstelle schlagen wir den Aufbau eines integrierten Patientenportals vor, in dem auch alle gegenwärtig mit Routinedaten der Patientenversorgung laufenden Forschungsvorhaben inklusive eines fachlichen und laienverständlichen Reportings verzeichnet werden.
Fußnoten
¹ Im Rahmen einer repräsentativen Forsa-Umfrage im Auftrag der TMF haben sich lediglich 27 Prozent aller potentiellen Datenspender für eine feingranulare Auswahlmöglichkeit im Rahmen der Datenspende ausgesprochen. (Präsentation)