Mehrwert digitaler Daten für Versorgung und Forschung sicherstellen – Politik muss jetzt handeln
Berlin, Juli 2019. Grundsatzpapier der Deutschen Hochschulmedizin – bestehend aus VUD und MFT – sowie der TMF.
Grundsatzpapier der Deutschen Hochschulmedizin – bestehend aus dem Verband der Universitätsklinika (VUD) und dem Medizinischen Fakultätentag (MFT) – sowie der Technologie- und Methodenplattform für vernetzte medizinische Forschung (TMF). Gemeinsam setzen sich die Deutsche Hochschulmedizin und die TMF für die stärkere Berücksichtigung der medizinischen Forschung bei der Digitalisierung des Gesundheitswesens ein.
1. Zusammenfassung / Forderungen
- Die Hightech-Strategie der Bundesregierung sieht vor, dass die elektronische Patientenakte (ePA) bis zum Jahr 2025 forschungskompatibel ausgestaltet wird. So können die in den Systemen enthaltenen Daten für die Forschung zugänglich gemacht werden. Um dies zu erreichen, muss spätestens in der zweiten Ausbaustufe der ePA nach 2021 die Forschungsperspektive auf allen Entscheidungsebenen und bei allen Entwicklungsschritten eng eingebunden werden, unter anderem bei der Gesellschaft für Telematikanwendungen (gematik), die für die technische Infrastruktur verantwortlich ist. Zudem müssen die Vorarbeiten der von der Hochschulmedizin getragenen Medizininformatik-Initiative des BMBF genutzt werden, um beim gemeinsamen Bemühen um eine zügige Digitalisierung des deutschen Gesundheitswesens kein Tempo einzubüßen.
- Anreizsteuerung für digitale Datenhaltung I: Leistungserbringer müssen auf eine Basisdokumentation verpflichtet werden. Auf freiwilliger Basis könnten sie einen erweiterten Datensatz dokumentieren und liefern (opt-in). Dafür bekämen sie einen Finanzierungszuschlag.
- Anreizsteuerung für digitale Datenhaltung II: Für eine schnellere IT-Durchdringung des Krankenhaussektors braucht Deutschland Anreizsysteme nach dem Vorbild des „meaningful use“-Programms der US-Regierung sowie die Öffnung des Krankenhaus-Strukturfonds auch für die Uniklinika.
- Einheitliche Standards für Forschung und Versorgung sind notwendig. Um große Mengen von Daten verarbeiten zu können, müssen sie von den Leistungserbringern nach einheitlichen internationalen Standards strukturiert dokumentiert und abgelegt werden. Diese Standards müssen national festgelegt werden, und zwar für die Forschung und die Patientenversorgung einheitlich. Das erfordert eine enge Abstimmung von Wissenschafts- und Gesundheitspolitik.
- KIS/PVS-Hersteller müssen verpflichtet werden internationale Standards im Hinblick auf die semantische Interoperabilität und für ihre syntaktischen Schnittstellenspezifikationen einzuhalten.
- Ein engerer Austausch und Koordination zwischen Medizininformatik-Initiative (MI-I), gematik, Bundesgesundheitsministerium und Bundesministerium für Bildung und Forschung ist notwendig.
- Solange die Zuständigkeit für die Inhalte der elektronischen Patientenakten bei der KBV liegt, brauchen wir eine explizite Prüf- und Darlegungspflicht zu Forschungsaspekten für die KBV bei allen ihren Entscheidungen sowie ein Initiativrecht für die Hochschulmedizin.
- Datenschutz ist ein hohes Gut und darf nicht gefährdet werden. Allerdings ist es nicht sinnvoll, dass Deutschland sich ein uneinheitliches Datenschutzrecht leistet. Noch immer gelten in unterschiedlichen Bundesländern unterschiedliche Regelungen. Und dort, wo es einheitliche Regelungen gibt, werden diese teilweise unterschiedlich ausgelegt. Bei einrichtungs- oder bundesländerübergreifenden Projekten führt das oft zu langwierigen Abstimmungsprozessen. Eine Vereinheitlichung der Rechtslage als auch der Rechtsauslegung im Datenschutzrecht ist anzustreben.
- Es müssen die Grundlagen geschaffen werden, dass Patienten ihr Einverständnis zur Datennutzung (Forschung & Versorgung) möglichst niedrigschwellig erklären (und auch widerrufen) können. Die ePA muss dafür die Plattform sein.
- Es gilt zu klären, in welcher technischen Umgebung und inhaltlichen Form Daten aus der ePA für die Forschung bereitgestellt werden. Das Zusammenspiel von ePA und MI-I ist noch offen.
2. Ziel: Zusammenführung von aussagekräftigen Daten für eine bessere Versorgung und Forschung
Internationale Technologie-Unternehmen investieren dreistellige Milliardenbeträge in Gesundheitsapplikationen. Das nationale Gesundheitssystem in England führt die Gesamtgenomsequenzierung als Regelleistung ein. Österreich hat eine nationale Lizenz für die internationale „Sprache“ der medizinischen Datenwelt „SNOMED CT“ erworben.
Das deutsche Gesundheitswesen braucht dringend ein Update der e-Health-Gesetzgebung. Unser Land droht international als Forschungs- und Entwicklungsstandort den Anschluss zu verlieren. Die Patientinnen und Patienten drohen von wichtigen Aspekten des medizinischen Fortschritts ausgeschlossen zu werden: Personalisierte Therapien, schnellere Diagnosestellungen und mehr Patientensicherheit. Wir müssen endlich gemeinsam die regulatorischen Voraussetzungen schaffen, um eine flächendeckende Digitalisierung von Gesundheitsdaten für Versorgung und Forschung zu erreichen.
Die Digitalisierung hat auch in Deutschland das Potential, die medizinische Versorgung und Forschung zu revolutionieren. Zum Beispiel bei der Erhebung und Verwaltung von Daten: Doppeluntersuchungen könnten vermieden werden, Arzneimittel-Unverträglichkeiten ließen sich schneller erkennen oder geeignete Kandidaten für klinische Studien schneller finden. Zudem wird die Kommunikation zwischen Patient, Arzt und Krankenhaus vereinfacht. Die Digitalisierung ermöglicht intelligente Datenerfassungssysteme und -prozesse, die helfen, sich bei der Arzt-Patienten-Kommunikation ganz auf das Gespräch und die relevanten Informationen zu konzentrieren. So könnten Patienten ihre selbst erhobenen Daten, wie etwa Blutzuckerwerte oder Herzfrequenzmessungen, per Smartphone an den Arzt übermitteln, der diese auf dem gleichen Weg kommentieren kann. Versorgung kann dadurch besser, schneller und zielgerichteter erfolgen. Der Blick auf die Gesundheitsforschung bestätigt die Chancen der Digitalisierung: digitale Routinedaten vereinfachen die Versorgungsforschung und ermöglichen es, geeignete, bestmögliche Therapiewege für Patienten zu identifizieren. Zukünftig könnten z.B. Patienten mit septischem Schock adäquat behandelt werden, bevor klinisch eindeutige Symptome auftreten. Viele Krankheiten könnten in einem frühen Stadium anhand von Biomarkern identifiziert und abgefangen werden. Der Austausch digitaler Daten über Standorte hinweg ist dabei Grundvoraussetzung, um Künstliche Intelligenz-Anwendungen nutzbar zu machen, da hier eine große Anzahl von „Fällen“ zentral für das „Lernen“ der Maschine ist.
Um diese Potentiale zu heben, muss eine einrichtungsübergreifende elektronische Patientenakte (ePA) entwickelt werden. Die ePA soll alle für die Patientenversorgung relevanten Patientendaten aus unterschiedlichen Quellen (Informationssysteme der Krankenhäuser, Krankenkassen, niedergelassenen Ärzte, etc.) patientenbezogen verknüpfen. So könnten auf individueller Ebene, einheitlich strukturierte Datenbestände in interoperablen Systemen verknüpft werden. Aus der Akte heraus sollen die Daten den Leistungserbringern so zur Verfügung gestellt werden, dass dies den Versorgungsprozess unterstützt und verbessert. Gleichzeitig müssen Wissenschaftler die Möglichkeit haben die Daten zu Forschungszwecken zu nutzen, um so die Gesundheitsversorgung auch nachhaltig auf hohem Niveau zu halten.
Der Patient muss die Kontrolle darüber haben, wie seine Daten genutzt werden. Hierzu sollte es eine nutzerfreundliche Bedieneroberfläche geben, mit der ein Patient Dritten (Ärzte, Forscher) den Zugang zu seinen Daten gestatten oder verwehren kann.
Versorgung und Forschung müssen dabei Hand in Hand gehen. Aus Patientendaten, die für die Forschung genutzt werden, können neue Therapien entwickelt und anschließend in der Patientenversorgung angewendet werden. Je mehr und je besser medizinische Daten digitalisiert bereitstehen, umso effizienter können Forschung und Versorgung arbeiten. Dazu bedarf es der Anbindung der ePA an die klinische und biomedizinische Forschung. So wird aus der ePA eine forschungskompatible ePA, wie sie die Bundesregierung in ihrer Hightech-Strategie bis 2025 in Aussicht stellt. Zukünftig könnten Millionen von routinemäßig im klinischen Betrieb anfallenden Behandlungsdaten für die medizinische Forschung nutzbar werden. Neue Behandlungsverfahren könnten schneller evaluiert und seltene Erkrankungen schneller diagnostiziert werden.
3. Aktuelle Herausforderungen & Lösungen
3.1. Der Laborbericht kommt aus dem Fax: Die Daten sind nicht digitalisiert
Damit die relevanten Daten patientenbezogen in einer zentralen ePA zusammengeführt werden können, müssen sie in den dezentralen Quellsystemen (Klinik-Informationssystem, Praxis-Informationssystem etc.) in der erforderlichen Qualität digital vorliegen. Dies ist heute oft nicht der Fall, weil die IT-Infrastruktur der Leistungserbringer (Krankenhäuser, Arztpraxen) vielerorts nicht hinreichend entwickelt ist. Die Folge: Viele Daten werden immer noch auf Papier erfasst und archiviert. Eine weiteres Problem: Wenn eine elektronische Archivierung erfolgt, fehlen oft einheitliche semantische Standards. Das hat zur Folge, dass die Daten nur eingeschränkt bei einer einrichtungsübergreifenden Versorgung eines Patienten ausgetauscht oder zur Versorgungssteuerung genutzt werden können. Ebenso wenig können diese Daten wissenschaftlich ausgewertet werden, weil wichtige Informationen bei entsprechenden Suchanfragen im Datensatz nicht richtig bezeichnet sind und somit nicht gefunden werden können.
Um dieses Problem zu lösen, müssen in den Krankenhäusern und Arztpraxen digitale Dokumentationssysteme (Software-Tools) implementiert und ggf. die Mitarbeiter, die darin Daten erfassen, in ausreichender Zahl abgestellt und geschult werden. Letzteres ist eine Daueraufgabe. Diese Dokumentationsinfrastruktur, bestehend aus Software und Dokumentaren, ist eine Vorhalteleistung, die dauerhaft zusätzlich finanziert sein muss. Dies ist derzeit nicht der Fall. Für eine einheitliche, standardisierte und strukturierte Datenhaltung im klinischen wie auch ambulanten Bereich gibt es bisher keine formale oder organisatorische Notwendigkeit und kein Anreizsystem. Deshalb ist diese Infrastruktur bei den Leistungserbringern (insbesondere den Krankenhäusern) nicht in der nötigen Ausbaustufe vorhanden (siehe Krankenhausreport 2019). Dokumentation findet derzeit nur in der Form und in dem Umfang statt, wie es für die Abrechnung, die Behandlung und die Forensik erforderlich ist. Für einen umfassenden, einrichtungsübergreifenden Austausch von Patientendaten oder zur präziseren Versorgungssteuerung ist das zu wenig, und auch die Bedürfnisse der Forschung werden Stand heute in der Dokumentation nicht ausreichend berücksichtigt.
Parallel zum Aufbau einer nationalen Vernetzungsinfrastruktur muss daher die dezentrale Dokumentation insbesondere in den Krankenhäusern auf Basis national definierter semantischer Standards über eine gezielte Incentivierung gefördert werden. Ein solches Incentivierungs-Programm muss auf die Unterstützung von Forschung und Patientenversorgung gleichermaßen abzielen.
Ein Anreiz für eine erweiterte Datenlieferung sollte geschaffen werden (opt-in bei der Dokumentation): Alle Leistungserbringer sind zu einer „schlanken“ Basisdokumentation verpflichtet. Auf freiwilliger Basis könnten Leistungserbringer einen erweiterten Datensatz dokumentieren und liefern (opt-in). Dafür bekämen sie einen Finanzierungszuschlag.
Für die digitale Durchdringung der Krankenhäuser sind auch grundsätzlich zusätzliche Mittel erforderlich. Die IT-Systeme sind häufig veraltet und die IT-Budgets in den Krankenhäusern zu klein. Sie liegen in der Regel bei ein bis zwei Prozent des Umsatzvolumens, was im internationalen Vergleich sehr wenig ist. Weder die Investitionsförderung der Länder noch das Fallpauschalensystem, über das die Krankenversorgung abgerechnet wird, berücksichtigen den durch die Digitalisierung anfallenden zusätzlichen Mittelbedarf.
Eine Möglichkeit zu einer schnelleren IT-Durchdringung des Krankenhaussektors bieten Anreizsysteme nach dem Vorbild des „meaningful use“-Programms der US-Regierung zur Förderung der Digitalisierung von medizinischen Einrichtungen: Krankenhäuser, die klar definierte Funktionalitäten zur Datenerhebung, Datenhaltung und vor allem auch zum Datenaustausch vorhalten, erhalten dafür in einer Übergangsphase zusätzliche Mittel. Allerdings sollte nach einer Frist von fünf bis sieben Jahren diese Incentivierung beendet werden. Krankenhäuser, die dann die Anforderungen noch nicht erfüllen, sollten mit einem Budgetabzug sanktioniert werden. Ausgangspunkt sollten die Module des Kerndatensatzes der Medizininformatik-Initiative sein. Für jedes dort abschließend definierte und von einer staatlichen Stelle bestätigte Modul (Labor, Medikation, Bildgebung etc.) sollten jene Großkrankenhäuser, die dieses Modul digital und strukturiert vorhalten, einen Digitalisierungszuschlag auf ihr Budget erhalten.
3.2. Safety last: IT-Sicherheit hoffnungslos unterfinanziert
In einem digitalisierten Gesundheitssystem muss der Schutz von Patientendaten den höchsten Sicherheitsstandards genügen. Das Vertrauen der Patienten in ein digitalisiertes Gesundheitssystem hängt davon maßgeblich ab. Eine moderne und sichere IT-Infrastruktur ist Voraussetzung für beste Versorgung und innovative Forschung.
Da die Krankenhäuser im Zentrum der Digitalisierung des Gesundheitswesens stehen, muss die Förderung der IT-Sicherheit von „Kritischen Infrastrukturen“ (gemäß IT-Sicherheitsgesetz) Priorität haben. Uniklinika gehören als Großkrankenhäuser zur sogenannten „Kritischen Infrastruktur“, für die der Gesetzgeber laut IT-Sicherheitsgesetz besonders hohe Sicherheitsstandards einfordert. „Kritische Infrastrukturen“ sind Einrichtungen, die für die Aufrechterhaltung wesentlicher gesellschaftlicher Funktionen notwendig sind. Krankenhäuser mit mindestens 30.000 stationären Fällen pro Jahr fallen darunter. Somit gelten alle Universitätsklinika als „Kritische Infrastruktur“ und sind daher gesetzlich verpflichtet, besondere Schutzmaßnahmen für ihre IT-Systeme zu treffen.
Die Krankenhäuser werden von der Politik jedoch weitgehend allein gelassen. Das derzeit einzige Förderinstrument für Investitionen in IT-Sicherheit ist der Krankenhaus-Strukturfonds. Ausgerechnet für die Uniklinika, die einen maßgeblichen Anteil an der klinischen Infrastruktur stellen, ist dieser jedoch bisher verschlossen. Auch die Uniklinika müssen für IT-Sicherheit im Krankenhaus-Strukturfonds förderfähig werden. Dies fordert auch der Sachverständigenrat zur Begutachtung der Entwicklung im Gesundheitswesen.
3.3. Der Turmbau zu Babel: Keine einheitlichen Standards für das Gesundheitswesen festgelegt
Damit die digital erfassten Daten in der ePA zueinander kompatibel und sowohl für Versorgung als auch Forschung nutzbar sind, brauchen wir einheitliche semantische und syntaktische Standards. Dies ist heute nicht der Fall. Mit dem Terminservice- und Versorgungsgesetz (TSVG) hat die Kassenärztliche Bundesvereinigung (KBV) zwar die Zuständigkeit für die Herstellung der semantischen und syntaktischen Interoperabilität der ePA erhalten, trotzdem sind weiterhin viele Fragen zwischen KBV und der Gesellschaft für Telematikanwendungen (gematik) unklar. Die gematik ist die Organisation, die für den Betrieb der Telematikinfrastruktur, d.h. der „Datenautobahn“ im Gesundheitswesen zuständig ist sowie für die technische Spezifikation der erforderlichen Datenformate, Dienste und Komponenten für die Telematikinfrastruktur. Mit dem TSVG hat das BMG dort die Gesellschaftermehrheit übernommen. Es ist unbestritten, dass die gematik-Spezifikationen für die ePA noch deutlich weiterentwickelt werden müssen.
Wir brauchen einheitliche, international anerkannte und erprobte Standards, um die prozessuale Interoperabilität (z.B. IHE), die syntaktische Interoperabilität (z.B. HL7 FIHR) und die semantische Interoperabilität (z.B. Snomed CT, LOINC) sicherzustellen. Insbesondere die semantische Interoperabilität ist für die Forschung relevant. Der hier verwendete Standard beeinflusst die Qualität der Datenerfassung erheblich.
Um große Datenmengen aus der ePA heraus elektronisch auswerten zu können, müssen die Daten bereits im Quellsystem (Klinik-Informationssystem, Praxis-Informationssystem etc.) in einer hohen Qualität erfasst werden. Das bedeutet insbesondere, dass im Datensatz Gleiches gleich bezeichnet sein muss. Dies gelingt durch gute Terminologie, die internationalen Standards folgt.
Auch der Kontext der Information ist relevant. Um später mit Daten forschen zu können, reicht die simple Information über die Gabe eines bestimmten Arzneimittels nicht aus. Würde man diese Angabe in Form von Metadaten zusammenhängend abbilden, hieße das zum Beispiel: Medikament a wurde dem Patienten in der Dosis b auf Art und Weise c zur Uhrzeit d für den Zeitraum e aufgrund der Diagnose f verabreicht.
Die Daten müssen daher mit Hilfe semantischer Standards in der Primärdokumentation strukturiert erfasst werden. Diese Standards müssen international kompatibel sein, bundeseinheitlich definiert und verbindlich vorgegeben werden. Die Auswahl dieser Standards muss im Einvernehmen mit der Wissenschaft und den Standardisierungsorganisationen erfolgen.
In der vom BMBF geförderten Medizininformatik-Initiative (MI-I) werden sogenannte Kerndatensätze, die diesen Kriterien entsprechen, bereits entwickelt, z.B. der LOINC-Kerndatensatz für Labordaten. Auf diese Arbeiten der MI-I muss bei der Entwicklung der Interoperabilität der ePA zurückgegriffen werden. Diese Standards wurden in der Wissenschaft und der Forschung entwickelt und erarbeitet. Die KBV muss sich daran orientieren.
3.4. Kein Wunschkonzert: Abhängigkeit der Krankenhäuser und Praxen von Softwareherstellern
Die Klinikinformationssysteme (KIS) der Krankenhäuser und Praxisverwaltungssysteme (PVS) der niedergelassenen Ärzte werden von privaten Unternehmen programmiert und sind nicht einheitlich. Bisher gab es keine Vorgaben und keine Anreize für die Unternehmen dies zu ändern. In einem Krankenhaus werden mitunter verschiedene KIS-Systeme genutzt, die Daten nicht einheitlich strukturiert erfassen können. So gehen viele Patientendaten für die medizinische Versorgung verloren und viele forschungsrelevante Daten kommen nie in der Gesundheitsforschung an, weil die Systeme mit den Daten nicht umgehen können.
Für eine ePA, die die oben genannten Standards implementiert, wird es jedoch notwendig sein, dass die Informationssysteme von Krankenhäusern und niedergelassenen Ärzten diese internationalen Standards im Hinblick auf semantische und syntaktische Interoperabilität einhalten sowie eine einheitliche Import-/Exportschnittstelle bereitstellen, damit die Datenerfassung bzw. Datenübermittlung zwischen den Primärsystemen der Leistungserbringer und der ePA gewährleistet werden. Darauf müssen die Softwarehersteller verpflichtet werden auf der Basis der künftigen Vorgaben für Standards und Schnittstellen.
3.5. Zwei Seiten einer Medaille: Unzureichende Abstimmung zwischen Forschung und Versorgung
Um einheitliche Datenstandards zu definieren, Daten strukturiert vorzuhalten, Interoperabilität sicherzustellen und auch über die Grenzen von Bundesländern hinweg Forschungsdaten nutzen zu können, hat die Deutsche Hochschulmedizin bei der Bundesregierung erfolgreich für die Förderung des Aufbaus einer nationalen Forschungsinfrastruktur für medizinische Daten geworben. Mit der durch das Bundesministerium für Bildung und Forschung (BMBF) seit 2016 mit 150 Millionen Euro geförderten Medizininformatik-Initiative (MI-I) sollen die Chancen der Digitalisierung in der Medizin für Versorgung und Forschung bestmöglich genutzt werden. Dafür werden an Universitätsklinika entsprechende Strukturen aufgebaut und vernetzt. Gleichzeitig werden für konkrete medizinische Anwendungen innovative IT-Lösungen entwickelt, die die Möglichkeiten moderner digitaler Dienstleistungen und Infrastrukturen im Gesundheitsbereich zeigen sollen. An diesem Projekt beteiligen sich fast alle der 38 Standorte der Hochschulmedizin in Deutschland.
Die Selbstverwaltung im Bereich der Versorgung und die Medizininformatik-Initiative im Bereich der wissenschaftlichen Forschung verfolgen das gleiche Ziel, die Daten aus den einzelnen „Datensilos“ zusammenzuführen. So können die bereits vorliegenden Entwicklungen und Standards der Medizininformatik-Initiative, zum Beispiel zu einem modularen Kerndatensatz oder zum Umgang mit Einwilligungen der Patienten, die Entwicklung und Implementierung der ePA maßgeblich unterstützen. Aktuell findet zwischen den Initiativen aber keine Koordination statt. Grundsätzlich ist die erhöhte staatliche Steuerungsfähigkeit durch den Umbau der gematik im Rahmen des TSVG positiv zu bewerten. Bei der Neuausrichtung der gematik wäre jedoch eine Beteiligung der die Forschung vertretenden Akteure/Leistungserbringer sinnvoll gewesen. Denn nur über die Beteiligung der Trägerverbände der Hochschulmedizin kann die Forschungsperspektive in der gematik sichergestellt werden. Für das Ziel der Bundesregierung eine forschungskompatible ePA zu entwickeln, ist dies unerlässlich. Die aktuellen gesetzlichen Rahmenbedingungen eignen sich nicht, um Versorgungsdaten für die medizinische Forschung in Deutschland zu erschließen.
Ein engerer Austausch und Koordination zwischen Medizininformatik-Initiative, gematik, Bundesgesundheitsministerium und Bundesministerium für Bildung und Forschung ist notwendig.
Die im TSVG beschlossene vorgesehene zahnlose Einbindung der Forschung bei der Benehmensherstellung zur Interoperabilität der Datenstrukturen für die ePA durch die KBV ist indes nicht hinreichend. Solange die Zuständigkeit für die Inhalte der elektronischen Patientenakten maßgeblich bei der KBV liegt, brauchen wir eine explizite Prüf- und Darlegungspflicht zu Forschungsaspekten für die KBV bei allen ihren Entscheidungen sowie ein Initiativrecht für die Hochschulmedizin. Im Verfahren zur Herstellung der semantischen und syntaktischen Interoperabilität der ePA-Inhalte, müssen auch die am Verfahren beteiligten ein Vorschlagsrecht haben. Diese Vorschläge müssen vorgestellt und diskutiert werden können. Die KBV muss sich dazu verhalten.
3.6. Internationale Forschungszusammenarbeit trifft auf föderale Strukturen: Der Datenschutz ist fragmentiert
Hohe Datenschutzstandards sind für den Schutz von Patientendaten notwendig und uneingeschränkt positiv. Problematisch ist, dass es sehr lange dauert datenschutzrechtliche Fragen abschließend und widerspruchsfrei zu klären. Viele Projekte scheitern an Rechtsunsicherheit oder den aufwändigen Abstimmungsverfahren mit Datenschützern. Verfahrensweisen der datenschutzrechtlichen Regulatorik stoßen beim Umgang mit medizinischen Forschungsdaten zunehmend an Grenzen.
Um schnelle Fortschritte beim Austausch und der Nutzung von Patientendaten im Rahmen digitaler Infrastrukturen zu schaffen, sind Verfahrensvereinfachungen und Anpassung des Rechtsrahmens dringend erforderlich. Datenschutzthemen müssen schnell und bundeseinheitlich entschieden werden. Konkret ist eine Vereinheitlichung des Landesdatenschutzrechts und zugehöriger Spezialgesetze auf Landesebene (wie z.B. der Landeskrankenhausgesetze), aber auch von Spezialgesetzen auf Bundesebene (z.B. SGB V, SGB X) dahingehend anzustreben, dass eine bundesweite Datennutzung unter Wahrung der Schutzrechte für Patienten ermöglicht wird.
Eine Vereinheitlichung der Rechtslage als auch der Rechtsauslegung im Datenschutzrecht ist anzustreben.
3.7. Datenspende schwer gemacht: Einwilligungsmanagement fragmentiert
Vor der Erfassung medizinischer Forschungsdaten, die über den Behandlungskontext hinausgehen, muss – wie auch für normale Patientendaten – die Einwilligung des Patienten eingeholt werden, dass diese Daten für eine bestimmte Studie oder einen bestimmten Bereich der medizinischen Forschung genutzt werden dürfen.
Einwilligungen sind bisher in der Regel an einzelne Forschungszwecke gebunden. Mit der DSGVO ist die Möglichkeit eröffnet, den Forschungszweck breit zu definieren. Die Medizininformatik-Initiative hat auf dieser Basis mit den Landesdatenschutzbeauftragten eine Einigung über einen „Broad Consent“ erzielt. Dieser erlaubt, dass alle Patientendaten, die im Krankenhaus erfasst werden für die Forschung genutzt werden dürfen, ohne dass es einer engen Zweckbestimmung bedarf. Dies ist ein wichtiger Schritt zur praktischen Nutzung von Patientendaten für die Forschung. Damit steht für die Diskussion um die sogenannte „Datenspende“ bereits eine Lösung bereit.
Mit den neuen Medien oder einer in eine elektronische Patientenakte integrierten Einwilligungsplattform könnten Patienten sich bereits vor der Behandlung mit der Einwilligung zur Datennutzung befassen. Voraussetzung dafür wären wiederum bundeseinheitliche Vorgaben, da dem Patienten nicht zugemutet werden sollte, sich landes- oder einrichtungsspezifisch immer wieder neu informieren zu müssen. Stand heute muss der Patient den „Broad Consent“ für jeden Leistungserbringer, den er in Anspruch nimmt, einzeln erklären. Diesen Flickenteppich gilt es aufzulösen. Damit der Patient sein Einverständnis besser überblicken und administrieren kann, braucht es eine digitale Plattform. Diese Plattform muss Teil der zukünftigen Umgebung der elektronischen Patientenakte sein. Unter dem Aspekt der „usability“ muss es für den Patienten einfach möglich sein, seine Daten für die Versorgung (welcher Arzt darf welche Daten sehen) und die Forschung (welche Daten dürfen für welche Forschungszwecke genutzt werden) digital zu administrieren. Dafür brauchen wir ein (digitales) Formular, mit dem allgemeingültige Information, Zustimmung, Ablehnung und Widerruf erteilt werden kann. Nur so schaffen wir maximale Patientenorientierung und Benutzerfreundlichkeit. Es muss vermieden werden, dass Patienten für Forschungs- und Versorgungszwecke zwei getrennte Einwilligungsportale bedienen müssen. Dies würde Patienten von der Nutzung abschrecken und zu geringerer Beteiligung führen.
Es müssen die Grundlagen geschaffen werden, dass Patienten ihr Einverständnis zur Datennutzung (Forschung & Versorgung) möglichst niedrigschwellig erklären (und auch widerrufen) können. Das Einwilligungsformular muss praktikabel implementiert werden. Die ePA muss dafür die Plattform sein.
3.8. Die Karte zum Datenschatz zeichnen: Zugang zu Daten aus der ePA klären
Wissenschaftler müssen je nach Fragestellung Zugang zu den Daten der ePA in anonymisierter oder pseudonymisierter Form erhalten können. Da die ePA primär der Patientenversorgung dienen soll, wird die primäre Nutzungsumgebung der ePA aller Voraussicht nach den Versicherten/Patienten und den Behandlern vorbehalten bleiben. Für Wissenschaftler wird es daher eine eigene, von der Patientenversorgung entkoppelte Umgebung für die Nutzung der Daten geben müssen. Deshalb muss für eine forschungskompatible ePA u.a. definiert werden, in welcher technischen Umgebung und inhaltlichen Form (z.B. datenschutzkonforme Pseudonymisierung) Daten aus der ePA für die Forschung bereitgestellt werden. Zudem muss ein Regelwerk entwickelt werden, wer unter welchen Bedingungen für welche wissenschaftlichen Zwecke auf diese Daten zugreifen darf – und wer nicht.
Es stellen sich also bezüglich der Datenbereitstellung für die Wissenschaft technische, konzeptionelle und rechtliche Fragen. Zu klären wäre u.a. das Zusammenspiel von ePA und MI-I. Auch ist die Frage nach Speicherung der Daten (zentral – dezentral) nicht beantwortet. Das Verhältnis zwischen Datenintegrationszentren (DIZ) der MI-I, den Sozialdaten des DIMDI und der (forschungskompatiblen) ePA ist ebenfalls nicht geklärt. Stand heute sind diese Fragen weder in den Spezifikationen der gematik berücksichtigt, noch gibt es einen institutionellen Rahmen, in dem diese Fragen fachlich bearbeitet, politisch diskutiert und verbindlich entschieden werden können.
Über die Deutsche Hochschulmedizin
Der Verband der Universitätsklinika Deutschlands (VUD) und der Medizinische Fakultätentag (MFT) vertreten die Interessen der 34 Universitätsklinika sowie der 38 Medizinischen Fakultäten in Deutschland. Ihr gemeinsamer Dachverband ist die Deutsche Hochschulmedizin e.V. Gemeinsam stehen die Verbände für Spitzenmedizin, erstklassige Forschung sowie die international beachtete Medizinerausbildung und Weiterbildung von Ärzten.
Über die TMF
Die TMF - Technologie- und Methodenplattform für vernetzte medizinische Forschung e. V. (kurz: TMF) ist mit gegenwärtig 64 Mitgliedern und ihren einhundert Standorten bundesweit die Dachorganisation für die medizinische Verbundforschung in Deutschland. Sie ist Plattform für den interdisziplinären Austausch und die projekt- wie standortübergreifende Zusammenarbeit, um organisatorische, rechtlich-ethische und technologische Probleme der modernen medizinischen Forschung zu identifizieren und zu lösen. Die als gemeinnützig anerkannte TMF stellt diese Lösungen frei und öffentlich zur Verfügung. Mit dem Aufbau tragfähiger Infrastrukturen für die medizinische Forschung leistet die TMF einen Beitrag zur Stärkung des Wissenschaftsstandortes Deutschland im europäischen wie internationalen Wettbewerb.