Gemeinsame Stellungnahme zum Referentenentwurf eines Gesetzes für sichere digitale Kommunikation und Anwendungen im Gesundheitswesen (e-Health-Gesetz) und den darin vorgesehenen Regelungen zur Interoperabilität im Gesundheitswesen
Berlin, 24. Februar 2015.
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Gemeinsame Stellungnahme von
Arbeitskreis der Leiter der Klinischen Rechenzentren der Universitätskliniken Deutschlands (ALKRZ)
Berufsverband Medizinischer Informatiker (BVMI) e. V.
Charlottenstraße 42, 10117 Berlin
Bundesverband Gesundheits-IT - bvitg e. V.
Taubenstraße 23, 10117 Berlin
Deutsche Gesellschaft für Medizinische Informatik, Biometrie und Epidemiologie (GMDS) e. V.
Industriestraße 154, 50996 Köln
HL7 Deutschland e. V.
An der Schanz 1, 50735 Köln
IHE Deutschland e. V.
Charlottenstraße 42, 10117 Berlin
MFT Medizinischer Fakultätentag der Bundesrepublik Deutschland e. V.
Alt-Moabit 96, 10559 Berlin
TMF – Technologie- und Methodenplattform für die vernetzte medizinische Forschung e. V.
Charlottenstraße 42, 10117 Berlin
Verband der Universitätsklinika Deutschlands (VUD) e. V.
Alt-Moabit 96, 10559 Berlin
Diese Stellungnahme wird unterstützt und mitgetragen von:
Deutsche Gesellschaft für Epidemiologie (DGEpi) e.V.
c/o Institut für Epidemiologe, Biometrie und Informationsverarbeitung
Stiftung Tierärztliche Hochschule Hannover, Bünteweg 2, 30559 Hannover
Deutsche Gesellschaft für Gesundheitstelematik – Forum für eHealth & Ambient Assisted Living (DGG) e.V.
Gerhart-Hauptmann-Ring 57, 60439 Frankfurt am Main
Deutsches Netzwerk Versorgungsforschung (DNVF) e.V.
c/o Institut für Medizinsoziologie, Versorgungsforschung und Rehabilitationswissenschaft der Humanwissenschaftlichen Fakultät und der Medizinischen Fakultät der Universität zu Köln, Eupener Str. 129, 50933 Köln
Korrespondenzadresse:
TMF – Technologie- und Methodenplattform für die vernetzte medizinische Forschung e. V.
Charlottenstraße 42 | 10117 Berlin
Tel.: +49 (0)30 2200247-0 | Fax: +49 (0)30 2200247-99 | E-Mail: info@tmf-ev.de
Vorbemerkung: Die zeichnenden Organisationen nehmen hiermit gemeinsam und übereinstimmend zum im Referentenentwurf berührten Themenkomplex Interoperabilität Stellung. Die vorliegende Stellungnahme stellt daher nicht abschließend sämtlichen Kommentierungsbedarf der beteiligten Organisationen zum Gesetzentwurf dar, sondern ergänzt ggf. weitere veröffentlichte Kommentare der Beteiligten.
I. Grundsätzliche Stellungnahme zum Referentenentwurf
Die zeichnenden Organisationen – der Arbeitskreis der Leiter der Klinischen Rechenzentren der Universitätskliniken Deutschlands (ALKRZ), der Berufsverband Medizinischer Informatiker e.V. (BVMI), der Bundesverband Gesundheits-IT e.V. (bvitg), die Deutsche Gesellschaft für Medizinische Informatik, Biometrie und Epidemiologie e.V. (GMDS), HL7 Deutschland e.V., IHE Deutschland e.V., der Medizinische Fakultätentag der Bundesrepublik Deutschland e.V. (MFT), die Technologie- und Methodenplattform für die vernetzte medizinische Forschung e.V. (TMF) und der Verband der Universitätsklinika Deutschlands e.V. (VUD) – begrüßen und unterstützen den Impuls des Gesetzgebers, durch verstärkte sichere Nutzung von adäquaten Informations- und Kommunikationstechnologien die Qualität und Wirtschaftlichkeit in der medizinischen Versorgung zu stärken. Der vorliegende Entwurf ist daher im Grundsatz sehr zu begrüßen. Die Zielsetzung, durch Förderung telemedizinischer Leistungen die medizinische Versorgung auch vor dem Hintergrund der bestehenden demographischen Entwicklung unserer Gesellschaft und insbesondere in unterversorgten Gebieten langfristig zu sichern und zu verbessern, ist ebenso richtig und zu unterstützen wie die Öffnung der Telematikinfrastruktur für eine zeitnahe Einführung zusätzlicher nutzbringender Anwendungen, die nicht mehr zwangsläufig an die elektronische Gesundheitskarte gekoppelt sein müssen. Auch Strukturveränderungen in den Zuständigkeiten und Entscheidungsprozessen für einen erfolgreichen weiteren Aufbau und den Betrieb der Telematikinfrastruktur im Gesundheitswesen erscheinen im Grundsatz als zwingend. Weiterhin ist die Aufnahme von temporär befristeten Anreizsystemen, um Einrichtung und Betrieb elektronischer Kommunikationsprozesse im Gesundheitswesen voranzubringen, im Grundsatz sicherlich zielführend und folgt erfolgreichen Vorbildern in anderen Ländern. Besonders zu begrüßen ist zudem der Vorstoß, bis dato papierformularbasierte Kommunikations- und Antragsverfahren durch Einsatz elektronischer Verfahren zu vereinfachen, zu verbessern und somit zum Bürokratieabbau beizutragen. Insbesondere ist aus Sicht der zeichnenden Organisationen der Vorstoß ebenso so zwingend wie richtig, die Interoperabilität der Telematik im Gesundheitswesen zu stärken und durch geeignete Maßnahmen effektiv zu verbessern. Das Gelingen dieses Vorhabens ist zugleich eine essentielle Voraussetzung dafür, die meisten der zuvor genannten Ziele erreichen zu können.
Zugleich stellt sich an vielen Punkten des vorliegenden Entwurfs die Frage, ob nicht Chancen ausgelassen werden und ob die Ziele des Gesetzentwurfs mit den vorliegenden Maßnahmen hinreichend erreicht werden können. Zielsetzungen und Definitionen bleiben häufig zu vage. Weitergehende Aspekte der intersektoralen Kommunikation (über den elektronischen Entlassbrief hinaus) werden nicht adressiert bzw. bei den telemedizinischen Leistungen lediglich durch den Auftrag zur Änderung des Bewertungsmaßstabes gefördert. Für das Gesundheitswesen relevante Bereiche wie die medizinische Forschung (inkl. Versorgungsforschung) und der öffentliche Gesundheitsdienst bleiben komplett unerwähnt und unberücksichtigt. Hinsichtlich der strukturellen Weiterentwicklung bleiben Zuständigkeitszuweisungen entlang der bisherigen Sektorengrenzen und Selbstverwaltungsstrukturen hinter den Erfordernissen zurück. Offene und transparente, standardisierte Konsensprozesse fehlen in dieser Weiterentwicklung. Insbesondere für die intendierte Förderung der Interoperabilität im Gesundheitswesen ist dies kritisch. Weder die beschriebenen Maßnahmen (Interoperabilitätsverzeichnis, Informationsportal) noch die Anreizsysteme (gebührenbehaftete Eintragung in das Interoperabilitätsverzeichnis) noch die beschriebenen Zuständigkeiten und (weitgehend fehlenden) Konsensprozesse lassen den erhofften und erforderlichen Impuls erwarten, den es benötigt, um die reale Anwendung von IT-Standards flächendeckend voranzubringen und um insbesondere intersektorale Interoperabilität zu erreichen. Auch stellt sich die Frage, warum neben den Verfahren zum Interoperabilitätsverzeichnis, das die Standardisierung und Interoperabilität voranbringen soll, zusätzlich separat geregelte und kaum mit diesen Prozessen verzahnte Regelungen und Standardisierungszuständigkeiten benötigt werden. Stattdessen bedarf es einer Stärkung des Konsenscharakters und der Verbindlichkeit der auf dem Interoperabilitätsverzeichnis basierenden Festlegungen. Die zeichnenden Organisationen vertreten die Auffassung, dass Interoperabilität nur dann sichergestellt werden kann, wenn nicht jeder Sektor für seinen Bereich eigene Vorgaben definiert, sondern neben den Organen der Selbstverwaltung auch die Wissenschaft und die Industrie in einem gemeinsamen übergreifenden Gremium die notwendigen Abstimmungen vornehmen und Festlegungen treffen. Hierzu bedürfte es präziserer Vorgaben und zusätzlicher Strukturen, welche Anbieter und Anwender aus unterschiedlichen Domänen einbezieht. Im Folgenden wird auf diese Aspekte der geplanten Regelungen zur Interoperabilität näher eingegangen.
II. Genauere Definitionen und Zielvorgaben für Standardisierung notwendig
Zur Stärkung einer nachhaltigen Interoperabilität bedarf es präziserer Vorgaben und eines verbindlichen übergreifenden Konsensprozesses (siehe hierzu auch die Abschnitt IV und V). Der Gesetzgeber ist hier zu einem offensiveren Gestalten zu ermutigen.
Aus einer „Definition offener Schnittstellen“, wie sie der § 291d in seiner derzeitigen Fassung vorsieht, resultiert alleine noch keine Interoperabilität. Vielmehr besteht angesichts des streng sektorenbezogenen Vorgehens hinsichtlich Aufgabe – Absatz (1) sieht nur Anwendungsfälle jeweils innerhalb eines Sektors vor – und Zuständigkeitszuweisung – Absatz (3) und (4) delegieren alleinig an den jeweils sektorbezogenen zuständigen Selbstverwaltungspartner – die große Gefahr, dass rein sektorale Festlegungen getroffen werden und Dokumenten- und Datenaustausch lediglich auf niedrigem Level intersektoral erfolgen, die „offenen Schnittstellen“ mithin zu Flaschenhälsen werden. Die Zielsetzung wie auch ihre Begründung (siehe S.49 ff.) greift hier ebenso zu kurz wie die Vorstellung einer rein sektorbezogenen Umsetzung. Vielmehr bedarf es einer intersektoralen, alle Stakeholder einbeziehenden Abstimmung, um Interoperabilität zu erreichen (siehe hierzu auch Abschnitt V). Insgesamt ist daher der § 291d in seiner jetzigen Fassung aus Interoperabilitätssicht ungeeignet.
Generell müssen nicht nur „offene“, sondern „im Einklang mit internationalen Standards und Terminologien standardisierte“ Schnittstellen gefordert werden. Der verbindliche Hinweis auf und die Anlehnung an internationale Standards (HL7, IHE) und Terminologien und Klassifikationen (SNOMED CT, LOINC, ICD, ATC etc.) ist wichtig, um sich den Weg zur europäischen bzw. internationalen Kommunikation von Patientendatendaten und internationalen Vergleichen (Versorgungsforschung) nicht zu verbauen und zugleich den Herstellern zu ermöglichen, mit ihren Produkten an der internationalen Entwicklung teilzuhaben.
Auch in weiteren Abschnitten des Gesetzentwurfs wird nicht deutlich, auf welchem Level des Informationsaustauschs die vorgesehenen Schnittstellenfestlegungen erfolgen sollen. So bleibt es z.B. völlig offen, welche Definition des elektronischen Entlassbriefs gemäß § 291f angestrebt wird, ob Vorgaben auch für inhaltliche Strukturierung, Unveränderlichkeit und Beweissicherheit erwartet werden, die konkret genug für einen interoperablen und berufsrechtlich belastbaren Dokumentenaustausch zwischen Krankenhäusern und niedergelassenen Ärzten sind. Für die bereits partiell im Einsatz befindlichen unterschiedlichen Formen von elektronischen Patientenakten fehlen jegliche neuere Konkretisierungen im Gesetzentwurf.
Sichere digitale Kommunikation hat sowohl technisch-organisatorische Aspekte (Datenschutz und Datensicherheit) als auch inhaltliche Aspekte (Syntax und Semantik). Syntax und Semantik werden in dem Entwurf kaum explizit berührt, sind aber zentraler Kern: Der derzeitige Entwurf würde auch die Übermittlung von einem gescannten Bild als PDF, welches sicher übertragen wird, zulassen. Ohne eine solche Kommunikationsform als mögliche erste Stufe abzulehnen – die deutlich größeren Vorteile der digitalen Kommunikation hinsichtlich Nachnutzbarkeit und automatisierter Datenverarbeitung entstehen aber erst durch einen strukturierten und semantisch annotierten Datenaustausch.
Entsprechend ist vorzugeben, dass die entsprechenden Schnittstellen syntaktisch und semantisch untereinander und mit internationalen Standards abgestimmt sein müssen.
Zweifelsohne bedarf es auf dem Weg zu einem umfassenden behandlungsbegleitenden intersektoralen Datenaustausch eines stufenweisen Vorgehens, da sich mit strukturierter Datenerfassung und -übertragung und semantischer Standardisierung hohe Aufwände verbinden, auf Seiten der Anwender (Leistungserbringer) gleichermaßen wie bei den Anbietern informationstechnischer Systeme und Dienstleistern. Umso wichtiger ist es, von Beginn an wirkungsvolle Konsentierungsprozesse und eine geeignete Einbindung aller Stakeholder vorzusehen (und die Definition der offenen Schnittstellen an diese zu koppeln), um Akzeptanz zu erreichen und eine flächendeckende Implementierung am Ende nicht zu verfehlen.
III. Medizinische Forschung und öffentlicher Gesundheitsdienst (Public Health) fehlen im Gesetzentwurf
Wichtige Domänen und Bereiche des Gesundheitswesens bleiben im Gesetzentwurf unberücksichtigt. Insbesondere die medizinische Forschung und der öffentliche Gesundheitsdienst müssen dringend bei der weiteren Ausgestaltung der Telematikinfrastruktur im Gesundheitswesen stärker berücksichtigt werden, da hier hoher Bedarf an Infrastrukturaufbau für sichere elektronische Kommunikations- und Datenverarbeitungsprozesse besteht und da zugleich beide Bereiche in erheblichem Maße zu den übergeordneten Zielen des Gesetzentwurfes beitragen (Verbesserung der Qualität und Wirtschaftlichkeit der medizinischen Versorgung sowie Versorgungssicherung). Aus volkswirtschaftlicher Sicht ist es nicht sinnvoll, parallele Strukturen aufzubauen und zu finanzieren. Insbesondere für die Versorgungsforschung und die damit verbundene Weiterentwicklung des Gesundheitsversorgungssystems ist es unerlässlich, eine sicherere und interoperable Anwendung zur Sekundärdatennutzung zur Verfügung zu stellen. Die medizinische Forschung ist daher sowohl bei der Öffnung der Telematikinfrastruktur für neue Anwendungen als auch bei den Maßnahmen zur Interoperabilität einzubeziehen. Aktuell sind medizinische Forschung und Patientenversorgung hinsichtlich genutzter IT-Standards und IT-Infrastrukturen stark separiert, was weder der Patientensicherheit noch der nachhaltigen Finanzierung dienlich ist.
Im Einzelnen ist eine Aufnahme der medizinischen Forschung – z.B. der bisherigen Logik folgend als eigener „Sektor“ in § 291d in einem neu einzufügenden Absatz (5) (es gelten aber die in Abschnitt II geäußerten grundlegenden Bedenken gegenüber § 291d in seiner jetzigen Form) – zu empfehlen, der dann auch für diesen Bereich in einer geeigneten Organisationsform die Festlegung offener und standardisierter Schnittstellen vorschreibt und die Organisation der wissenschaftlichen Begleitung der Schnittstellenentwicklung und den Aufbau eines Konzeptes zur Nutzung der Daten für die Versorgungsforschung regelt.
Weiterhin sind Vertreter der Telematik in der medizinischen Forschung und des öffentlichen Gesundheitsdiensts in den Expertenrat gemäß § 291e Absatz (5) aufzunehmen.
Darüber hinaus ist zu prüfen, inwieweit Aspekte der Versorgungsforschung nicht auch in weiteren Abschnitten des Gesetzentwurfs explizit erwähnt werden sollten (z.B. in § 291h Absatz (2) bei der Festlegung von Inhalt und Struktur des elektronischen Arztbriefes hinsichtlich Nutzbarkeit für Versorgungsforschung, weiterhin Aufnahme in § 291a Absatz (7) gemäß Änderung nach 11.g. bb). Schließlich wäre zu prüfen, inwieweit im Rahmen dieser Gesetzesänderung nicht auch § 291a Absatz (8) dahingehend geändert werden sollte, die Nutzung der elektronischen Gesundheitskarte und der Telematikinfrastruktur explizit für sichere Anwendungen der medizinischen Forschung und speziell der Versorgungsforschung zuzulassen, soweit dies nicht durch die o.a. Erweiterung von § 291a Absatz (7) hinreichend gegeben ist.
IV. Verbindlichkeit und perspektivische Bedeutung des Interoperabilitätsverzeichnisses unklar
Als zentrale Säule der Maßnahmen zur Stärkung der Interoperabilität im Gesundheitswesen sieht der Gesetzentwurf nach § 291e den Aufbau und Betrieb eines Interoperabilitätsverzeichnisses samt einem zugehörigen Informationsportal durch die Gesellschaft für Telematik mbH (im Folgenden: Gematik) vor. So hilfreich sicherlich ein zentrales Interoperabilitätsverzeichnis für „technische und semantische Standards, Profile und Leitfäden für informationstechnische Systeme im Gesundheitswesen“ – gewissermaßen als „Weißbuch der guten Standards“ – auch sein mag, so stellen sich hieran noch etliche Fragen, die bis dato einen erfolgreichen Beitrag zur sektorenübergreifenden realen Nutzung von Standards und zur Interoperabilität in der Routine zweifelhaft erscheinen lassen, zumindest in der jetzigen Ausgestaltung.
a) Die Verbindlichkeit des Interoperabilitätsverzeichnisses bleibt unklar – weder besteht nach § 291e (7) über die Anwendungen nach § 291/§ 291a hinausgehend eine Pflicht zur Eintragung, noch eine Pflicht zur Nutzung eingetragener Standards, noch nicht einmal für die öffentlich-rechtlichen Organe der Selbstverwaltung. Die unverbindliche Empfehlung der Gematik gemäß § 291e (9) muss als unzureichend angesehen werden, um die Nutzung derjenigen Standards, die im Verzeichnis eingetragen sind, voranzubringen. Öffentlich verfügbare Standards auf dem Papier gibt es heute bereits in großer Zahl und guter Qualität – es hapert an der Umsetzung und Anwendung in der Routineversorgung.
b) Anders als bei den Maßnahmen gemäß § 291f (elektronischer Entlassbrief) und § 291h (elektronische Briefe) wird darauf verzichtet, auch bei weiteren Anwendungen unter Nutzung von im Interoperabilitätsverzeichnis gemäß § 292e eingetragenen Standards – zeitlich befristete – Incentives vorzusehen, um die Standardnutzung attraktiv zu machen und damit die Rolle des Interoperabilitätsverzeichnisses zu stärken. Stattdessen ist gemäß § 291e (4) eine Gebührenpflicht für die Eintragung von Standards in das Interoperabilitätsverzeichnis vorgesehen, wobei die Gebührenhöhe noch nicht feststeht und diese durch die Gematik selbst festgelegt wird. Es macht aber wenig Sinn, Gebühren für die Aufnahme der Standards zu verlangen, da dies die Publikation von Standards eher verhindert. Gemeinnützige Standardisierungsgremien werden die von ihnen erarbeiteten und teilweise bereits international genutzten und verbreiteten Standards und Profile nicht gegen Gebühr in einem Interoperabilitätsverzeichnis eintragen lassen. Insofern stellt sich die Frage, wen das Interoperabilitätsverzeichnis eigentlich adressiert. Insgesamt besteht hierbei die Gefahr, dass durch ein negatives Anreizsystem die Zielsetzung des Interoperabilitätsverzeichnisses verfehlt wird.
c) Es wird keine Zielvorgabe getroffen, nach welchen Kriterien eine Aufnahme von „Standards, Profilen und Leitfäden“ im Interoperabilitätsverzeichnis erfolgen soll. Dies wird lediglich in etwas vager Form der vorgesehenen Geschäfts- und Verfahrensordnung der Gematik gemäß § 291e (3), Punkt 3 vorbehalten. Wichtiger als eine ausgefeilte Gebührenordnung zum Einstellen von Standards (siehe oben) wäre ein vorgeschriebener Konsentierungs- und Qualitätssicherungsprozess für Standards und eine Beurteilung anhand transparenter Kriterien.
d) In diesem Kontext wären sowohl zur Beurteilung zur Aufnahme als auch im Rahmen der Angaben im Verzeichnis Informationen zur Verfügbarkeit von Testsystemen, mit denen Hersteller oder Anwender Systeme auf korrekte, standardkonforme Funktionalität prüfen können, sowie eine Liste von Produkten mit Version und bestandenen Konformitätsbewertungsverfahren wertvoll.
e) § 291f (5) und § 291h (4) sowie § 291g (4) und (5) sehen für den elektronischen Entlassbrief bzw. die Übermittlung elektronischer Briefe Konformitätsprüfungen und Zertifizierungen vor. Hier empfiehlt sich die Einrichtung einer gemeinsamen Stelle zur Konformitätsprüfung. Insbesondere aber stellt sich die Frage, warum gemäß § 291g (6) die Listung der geprüften Systeme nicht im Kontext bzw. mit Verknüpfung zum Interoperabilitätsverzeichnis bzw. zum Informationsportal erfolgt, die Prozesse gemäß § 291f-h mithin weitgehend entkoppelt sind vom Interoperabilitätsverzeichnis gemäß § 291e.
f) § 291f (2) sieht inhaltliche Mindestangaben zum elektronischen Entlassbrief vor, § 31a (2) die Inhalte des Medikationsplans. In beiden Abschnitten fehlen explizite Vorgaben zur Nutzung internationaler syntaktischer und semantischer Standards. Auch fehlt an beiden Schnittstellen der explizite Bezug zur Nutzung von Standards und Profilen im Interoperabilitätsverzeichnis, was auch hierbei die Prozesse entkoppelt und die Relevanz des Interoperabilitätsverzeichnisses für die relevanten gesetzlichen Anwendungen fraglich erscheinen lässt.
g) Adressierung und Nutzwert des Informationsportals gemäß § 291e (11) bleiben im Entwurf weitgehend unklar. Aus der Gesetzesbegründung geht hervor, dass hierbei eine Fortführung des Telemedizinportals vorgesehen ist. Dies legt eine Verteilung nahe, wonach Konzepte im Verzeichnis und Links auf Anwendungen im Portal gelistet werden sollen. Eine Verdeutlichung wäre wertvoll, insbesondere auch dahingehend, wer der adressierte Nutzerkreis des Portals sein soll.
V. Konsensprozesse absichern – Expertenrat ausbauen
Gemäß § 291e (5) ist vorgesehen, dass die Gematik unabhängige Experten beruft, die „den Aufbau, die Weiterentwicklung und die Pflege des Interoperabilitätsverzeichnisses“ begleiten und hierzu Empfehlungen geben. Diese „Expertengruppe“ gemäß § 291e (5) ist zu befragen
- bei der Aufnahme von technischen und semantischen Standards, Profilen und Leitfäden für Anwendungen nach § 291/§ 291a in das Interoperabilitätsverzeichnis durch die Gematik (geregelt in § 291e (7)),
- bei der Aufnahme von technischen und semantischen Standards, Profilen und Leitfäden für andere Anwendungen in das Interoperabilitätsverzeichnis im Rahmen des Antragsverfahrens (geregelt in § 291e (8)),
- sowie bei der Empfehlung von Referenz-Standards durch die Gematik (geregelt in § 291e (9)).
Die Kosten für die Mitarbeit der Experten sind gemäß § 291e (5) von der Gematik zu tragen.
Der Vorschlag zur Schaffung einer solchen unabhängigen Expertengruppe ist aus Sicht der zeichnenden Organisationen ausdrücklich zu begrüßen. Auch die in § 291e (5) gelisteten Kompetenzen und Stakeholder-Gruppen (unter Einbeziehung von Anwendern und Industrie, Standardisierungsgremien, Fachverbänden, Wissenschaft), die bei der Berufung zu berücksichtigen sind, sind im Grundsatz richtig. Bei den genannten „Vertretern wissenschaftlicher Einrichtungen“ ist zu unterscheiden zwischen wissenschaftlichen Vertretern, die fachlich den Aufbau der Telematikinfrastruktur und die Nutzung von syntaktischen und semantischen Standards begleiten und beraten können, und wissenschaftlichen Vertretern, die Infrastrukturen und Standardisierung in der medizinischen Wissenschaft betreiben. Beide Gruppen sind einzubeziehen, ebenso Nutzerkreise aus den Bereichen Public Health, Versorgungsforschung und öffentlicher Gesundheitsdienst (siehe Abschnitt III). Die Etablierung einer solchen unabhängigen Expertengruppe ist zudem richtig, da sie dem Umstand Rechnung trägt, dass der existierende Gematik-Beirat für eine fachliche Beratung und Begleitung wie auch für übergreifende Konsensbildung nicht ausreichend ist.
Gleichwohl würde man sich auch in diesem Punkt noch mehr Konsequenz und Wirksamkeit der geplanten Maßnahmen und Strukturen wünschen. Verbindlichkeit, Wirksamkeit und Repräsentativität der Expertengruppe müssen gesteigert werden. Dabei sollte man nicht hinter die Ergebnisse der Interoperabilitätsstudie zurückfallen. Der derzeitige Entwurf sieht lediglich eine passive Rolle der relativ lose formulierten, von der Gematik bei Bedarf in nicht festgelegter Form anzurufenden „Expertengruppe“ vor. Die Gematik hat die Stellungnahmen der Experten zwar einzubeziehen und neben anderen Stellungnahmen zu veröffentlichen (gemäß § 291e (7)), ein verbindlicher Prozess der Abstimmung, Meinungs- und Konsensbildung wird aber nicht festgelegt. Offene Bottom-up-Prozesse zur Konsensbildung insbesondere zwischen Anbietern und Anwendern, wie sie gerade im Bereich der Standardisierung anzutreffen sind (z.B. IHE Cookbook, HL7 Balloting-Verfahren), sind in keinem Abschnitt bei den zu treffenden Festlegungen berücksichtigt. Auch bleibt die beratende Rolle der Experten auf die unmittelbaren Aspekte des Interoperabilitätsverzeichnisses beschränkt, auch wenn in Absatz (7) angedeutet wird, dass die Experten auch Stellungnahmen zu „anwendungsspezifischen Konkretisierungen und Ergänzungen“ abgeben können.
Nachfolgende Punkte sind daher dringend zu ergänzen und zu konkretisieren, um die intendierten Ziele erreichen zu können:
a) Die Berufung der Experten sollte nach transparenten Kriterien erfolgen.
b) Die berufene „Expertengruppe“ muss mit einer eigenen verbindlichen Arbeitsgrundlage und transparenten Geschäftsordnung ausgestattet werden, um eine geordnete Konsensbildung zu ermöglichen. Weder der Gematik noch dem Gesetzgeber ist damit gedient, wenn widersprüchliche Stellungnahmen einzelner Experten oder vermeintliche Konsensbeschlüsse bei fraglicher fachlicher Repräsentanz publiziert werden. Es sollte mithin eine Aufwertung zum „Expertenrat Interoperabilität“ erfolgen, der nicht nur passiv auf Anfrage agiert, sondern auch proaktiv beratend tätig wird. Eine kontinuierliche begleitende Aktivität ist hierfür ebenso notwendig wie eine unabhängigere Rolle mit eigenen Rechten (z.B. Dialog des Expertenrates mit der Politik, vergleichbar z.B. zum Wirtschaftsrat).
c) Um diese Unabhängigkeit zu gewährleisten, ist zwar die vorgesehene Finanzierung durch die Gematik folgerichtig, aber eine unabhängige institutionelle Aufhängung notwendig. Dies gilt umso mehr, als Gesellschafter der Gematik ihrerseits – nicht zuletzt durch den aktuellen Gesetzentwurf – standardfestsetzende Organisationen darstellen, die sich schwerlich selber unabhängig beraten können. Die Gematik sollte daher an dieser Stelle verpflichtet werden, gemäß §291b (1) [siehe S. 13, Absatz 1 des Referentenentwurfs] einen Auftrag an eine dritte Stelle zum Betrieb des Expertenrats zu erteilen im Rahmen der von ihr mit Zustimmung des BMG erlassenen Geschäfts- und Verfahrensordnung. Die Stelle muss fachlich kompetent, übergreifend und interessenneutral (gegenüber Systemanbietern, Kostenträgern, Leistungserbringern) aufgestellt sein, aber die faire und gleichrangige Einbeziehung aller Stakeholder und die fachliche Konsensbildung nachweislich gewährleisten können.
d) Der Evaluationsbericht der Gematik gemäß §291e (12) sollte einem Review durch den Expertenrat unterzogen werden.
e) Weiterhin sollten Zuständigkeit und Reichweite des „Expertenrats Interoperabilität“ auf alle weiteren im Gesetzentwurf vorgesehenen Maßnahmen und Strukturen, welche die Festlegung und den Einsatz von technischen und semantischen Standards, Profilen und Leitfäden berühren, ausgeweitet werden. Insbesondere sollte der Expertenrat zu diesen Aspekten zusätzlich einbezogen werden:
- bei der Definition offener Schnittstellen in den Sektoren gemäß § 291d,
- bei der Definition der Inhalte des Medikationsplans gemäß § 31a (2),
- bei der Definition der Inhalte des elektronischen Entlassbriefs gemäß §291f (2) und den dazugehörigen Verfahren gemäß § 291g (1),
- bei der Festlegung der Inhalte und Schnittstellen zur Übermittlung elektronischer Briefe im vertragsärztlichen Bereich gemäß § 291h (2),
- bei der Definition der offenen Schnittstellen zwischen Krankenhäusern und Vertragsärzten gemäß § 291g (1),
- bei der Festlegung der Konformitätsprüfungsverfahren gemäß § 291g (4) und (5),
- sowie bei der Festlegung der Schnittstellen im Rahmen der telemedizinischen Erbringung der konsiliarischen Befundbeurteilung von Röntgenaufnahmen gemäß § 291i (1), soweit hierbei technische und semantische Standards, Profile und Leitfäden berührt werden.
f) Schließlich ist im Zuge der bereits unter IV.g) angesprochenen notwendigen Klärung der Inhalte und Aufgaben des Informationsportals gemäß § 291e (11) zu prüfen, inwieweit auch hierbei Aufgaben anfallen, die sinnvollerweise vom Expertenrat beratend wahrgenommen werden sollten.
VI. Stärkung der Standardisierungsarbeit
Der Gesetzentwurf, mit dem darin enthaltenen Kostenplan und der Abschätzung von Erfüllungsaufwänden, verankert die Aufgaben zur Festlegung von Schnittstellen und Standards sowie die Zuständigkeiten für inländische wie internationale Standardisierungsaufgaben sehr stark bei den Organen der Selbstverwaltung (einschließlich der Gematik). Es ist zweifelsohne auch richtig und wichtig, dass sich die Selbstverwaltungspartner aktiv und mit den notwendigen Ressourcen an der Standardisierung der Telematik im Gesundheitswesen beteiligen.
Gleichwohl wäre es der nicht ausreichend, darauf zu setzen, dass Standardisierungsarbeit ausschließlich in diesen Organisationen erfolgen kann. Vielmehr findet ein Großteil der Standardisierungsaktivitäten auf nationaler wie auf internationaler Ebene in den Unternehmen wie in den akademischen Einrichtungen statt (Universitätsmedizin, Krankenhäuser, Fachhochschulen) – sowohl für die IT-Infrastrukturen der Patientenversorgung wie für jene der medizinischen Forschung.
Es wäre wichtig, dass die geplante Gesetzgebung die Chance nutzt, die Standardisierungsarbeit insgesamt zu stärken und den hiermit verbundenen steigenden Ressourcenbedarf zu decken durch verbindliche Vorgaben für die Gematik, gemäß § 291b (1) entsprechende Aufträge an Dritte für Aufgaben der Standardweiterentwicklung und Begleitforschung zu erteilen.