1. Nationales Digital Health Symposium sucht Schulterschluss für die Digitalwende im Gesundheitssystem
Blick in das Auditorium des Nationalen Digital Health Symposiums 2019. © TMF e.V.
Digitalisierung ist eine große Chance für mehr Patientennutzen durch bessere Information und Forschung, aber auch effizientere Prozesse für das lernende Gesundheitssystem – so lautet die Bilanz der Vertreterinnen und Vertreter der Forschung und Wissenschaft, der Leistungserbringer, gesetzlicher und privater Kostenträger, der Start-Ups und Branchenverbände sowie der Politik und Patientenorganisationen, die am 14. November 2019 zum 1. Nationalen Digital Health Symposium in Berlin zusammengekommen waren. Die seit Wochen ausgebuchte Veranstaltung im Fraunhofer Heinrich-Hertz-Institut stand unter dem Leitmotiv „Apps, Akten und AI: Digitale Gesundheitsinnovationen made in Germany?“ ganz im Zeichen des zuletzt aufgenommenen Tempos der Digitalisierung im Gesundheitssystem. Veranstaltet wurde das Symposium gemeinsam von der Gesellschaft für Versicherungswissenschaft und -gestaltung e.V. (GVG) und der Technologie- und Methodenplattform für die vernetzte medizinische Forschung e.V. (TMF).
Prof. Dr. Dr. Christian Dierks (Dierks+Company) beim 1. Nationalen Digital Health Symposium 2019. © TMF e.V.
Prof. Dr. Dr. Christian Dierks (Dierks+Company) äußerte für die GVG-Facharbeitsgruppe Digitalisierung und eHealth in seiner Begrüßung die Erwartung, dass Ärztinnen und Ärzte, wie auch Patientinnen und Patienten nun von den neuen Möglichkeiten des Gesetzes zur digitalen Versorgung Gebrauch machen: „In der Folge kann eine effizientere Datennutzung ganz konkret zur Verbesserung von Versorgung und Forschung beitragen.“ Bund und Länder stehen nach seiner Auffassung aber auch in der Pflicht, einen einheitlichen „Forschungsdatenschutzraum“ zu schaffen und den „Flickenteppich der Bund-Länder-Kompetenzen“ zu überwinden.
Auch TMF-Geschäftsführer Sebastian C. Semler betonte in seinem Eingangsimpuls die gemeinsame Verantwortung aller Akteure: „Die große Resonanz auf unser neues Veranstaltungsformat zeigt, dass wir mit der Vernetzung von Leistungserbringern, Kostenträgern, Patientenvertreterinnen und -vertretern und der medizinischen Forschung einen Nerv getroffen haben. Die jüngste Debatte um die Nutzung von Abrechnungsdaten unseres Gesundheitswesens für die medizinische Forschung hat deutlich gemacht: Neben der Gestaltung eines vertrauensvollen Rechtsrahmens braucht es konkrete Schritte, um auch die notwendige gesellschaftliche Akzeptanz sicherzustellen. Dabei wird der Einbezug von Patientinnen und Patienten in Fragen der Datennutzung und Vorhabenplanung eine wichtige Rolle spielen.“
Bewusst hatten die Veranstalter in Person der Vorsitzenden der BAG Selbsthilfe Hannelore Loskill die Patientenperspektive an den Beginn der Tagung gestellt. „Patientinnen und Patienten müssen sich auf Sicherheit und Nutzen von Apps verlassen können“, so Loskill. Betroffene wollten dabei oftmals mit ihren Daten zur zukünftigen Forschung beitragen, seien aber angesichts aktueller Diskussionen verunsichert. Es bedürfe klarer Vorgaben und der Darstellung der erzielten Ergebnisse, um das notwendige Zutrauen zurückzugewinnen. Entscheidend sei zudem, dass die Patientinnen und Patienten sicher sein könnten, dass mit ihren Gesundheitsdaten auch tatsächlich sinnvolle Forschungsergebnisse erzielt würden. Grundvoraussetzung hierfür sei, dass die Daten überhaupt strukturell in einer für Forschungszwecke geeigneten Form vorlägen. Darüber hinaus sollten Patientinnen und Patienten in die Entscheidung zu Zielsetzung und Ausgestaltung einzelner Vorhaben frühzeitig einbezogen werden.
Sebastian C. Semler, Geschäftsführer der Technologie- und Methodenplattform für die vernetzte medizinische Forschung e.V. (TMF). © TMF e.V.
Hannelore Loskill, Vorsitzende der Bundesarbeitsgemeinschaft Selbsthilfe. © TMF e.V.
Innovationen schneller in die Routineversorgung bringen
Dr. med. Monika Nothacker von der Arbeitsgemeinschaft der Wissenschaftlichen Medizinischen Fachgesellschaften betonte die Chancen digitaler Leitlinien als Grundlage für Entscheidungsunterstützung auf dem aktuellen Stand wissenschaftlicher Erkenntnis. Idealtypisch würden Ärztinnen und Ärzte zukünftig auf Basis der in der ePA erfassten Daten unmittelbar evidenzbasierte Behandlungsempfehlungen erhalten können. Mit derartigem Nutzen würde die Akzeptanz der Digitalisierung von Prozessen bei Leistungserbringern wie Patientinnen und Patienten zunehmen. In Hinblick auf den Einsatz von KI-Algorithmen in der Patientenversorgung forderte Nothacker, nicht von dem Erfordernis einer Beweisgenerierung im Rahmen von randomisierten Studien abzurücken. AI und Big Data seien nicht das Ende evidenzbasierter Medizin, sondern müssten sich darin beweisen.
Den möglichen Beitrag einer systematischen Sichtung von Abrechnungsdaten in Hinblick auf die Entdeckung von Co-Morbiditäten und individuellen Erkrankungsursachen betonte Prof. Dr. Jürgen R. Schäfer vom Zentrum für unerkannte und seltene Erkrankungen. Als Beispiel nannte er das Erkennen einer Kobaltvergiftung anhand des Wissens um eine vorherige Implantatversorgung in Kombination mit folgenden Diagnosen und Verordnungen. Die Medizininformatik-Initiative des Bundesministeriums für Bildung und Forschung lege darüber hinaus durch die deutschland-weite Vernetzung der Routinedaten eine ganz wesentliche Grundlage für ein Mehr an Erkenntnisgewinnung, bedürfe aber der Verknüpfung mit dem ambulanten Bereich. Weiter plädierte Schäfer dafür, auch die Chancen der Gesamtgenomsequenzierung in Deutschland verstärkt zu nutzen. Der jährliche Wissenszuwachs in Hinblick auf neue Erkrankungsbilder und –ursachen sei so enorm, dass es dringend einer Struktur für die routinemäßige Re-Analyse von einmal sequenzierten genomischen Daten bedürfe. Grundsätzlich gelte es, sich nicht von „Hürdensuchern“ entmutigen zu lassen, sondern vielmehr selbst „Chancensucher“ zu sein oder zu werden.
Von den Schwierigkeiten, Ärztinnen und Ärzte selbst von der Verordnung von unzweifelhaft evidenzbasierten Apps zu überzeugen, berichtete Christian Hälker vom Verband der privaten Krankenversicherung e. V. Gleichzeitig sei auch die Skepsis auf Seiten der Patientinnen und Patienten weiterhin erheblich. Als Beispiel nannte Hälker eine auf spielerischem Augentraining beruhende Anwendung zur Behandlung der funktionalen Sehschwäche - der sogenannten Amblyopie- im Kindesalter. Der notwendige Change-Prozess im Gesundheitswesen müsse daher auf einem Mehr-Ebenen-Modell fußen und werde nicht allein auf gesetzlichem Wege zum Erfolg zu führen sein.
Marcel Weigand vom Aktionsbündnis Patientensicherheit e.V. forderte weitergehende Angebote zur Vermittlung digitaler Gesundheitskompetenz für Patientinnen und Patienten. Zugleich warb er dafür, verstärkt nationale Daten für die Versorgungsforschung zu erschließen, da im Ausland entstandene Lerndatenkörper regelmäßig nicht auf die inländischen Strukturen und Bevölkerungsmerkmale übertragbar sein dürften. Wichtig sei für die weitere Entwicklung, Versorgungsbedarfe im Vorfeld zu identifizieren und Forschungs- und Entwicklungsinitiativen entsprechend aktiv zu steuern. Vor der Einführung in die Versorgung müsse anschließend stets der erbrachte Wirksamkeitsnachweis stehen.
Für den GKV-Spitzenverband äußerte Michael Weller die Erwartung, dass sich die aufholende Digitalisierung im deutschen Gesundheitswesen auch weiterhin als ein iterativer Prozess, bestehend aus vielen einzelnen gesetzgeberischen Maßnahmen, gestalten werde. So sei auch der im Digitalen Versorgungs-Gesetz erstmals verbriefte Anspruch auf digitale Gesundheitsanwendungen als ein Startpunkt zu verstehen, von dem aus Erfahrungen gewonnen werden können. Mit Blick auf die elektronische Patientenakte sei sicherlich in Hinblick auf das Selbstbestimmungsrecht der Patientinnen und Patienten noch nachzuarbeiten. Klar sei aber auch: Digitale Medizinprodukte würden ärztliches Handeln wesentlich unterstützen, aber nicht ersetzen können. Sie seien vor Allem auch ein Beitrag zur besseren organisatorischen Effizienz.
Dr. med. Monika Nothacker, Arbeitsgemeinschaft der Wissenschaftlichen Medizinischen Fachgesellschaften. © TMF e.V.
Prof. Dr. Jürgen R. Schäfer, Zentrum für unerkannte und seltene Erkrankungen. © TMF e.V.
Christian Hälker, Verband der privaten Krankenkassen e.V. © TMF e.V.
Marcel Wiegand, Aktionsbündnis Patientensicherheit e.V. © TMF e.V.
Michael Weller, GKV-Spitzenverband. © TMF e.V.
ePA: Forschende wünschen sich internationale Standards und Qualität
Prof. Dr. Thomas Ganslandt (Universitätsmedizin Mannheim) forderte, dass die zukünftige elektronische Patientenakte mehr sein müsse als eine reine digitalisierte Aktensammlung. Zwar würden die in der Medizininformatik-Initiative des Bundesministeriums für Bildung und Forschung organisierten Unikliniken gemeinsam mit ihren Projektpartnern gegenwärtig erstmals deutschlandweit Daten der Routineversorgung für Forschungszwecke systematisch erschließen, doch bildete dies nur einen Ausschnitt aus dem gesamten Versorgungsgeschehens ab. Eine Outcome-Kontrolle könne es ohne strukturierte Daten auch des niedergelassenen Bereich und der Rehabilitation nicht geben. Daher müsse die ePA zukünftig der Ort sein, an dem dezentral vorliegende Daten für berechtigte Nutzergruppen im Original und in interoperabler Form verfügbar sind.
Für die im Terminservice- und Versorgungsgesetz mit der Festlegung der semantischen und syntaktischen Struktur der Inhalte der elektronischen Patientenakte betrauten Kassenärztlichen Bundesvereinigung stellte Dr. Bernhard Tenckhoff in Aussicht, dass die zunächst als PDF und Bilddateien vorliegenden Einzelelemente nach und nach durch strukturierte Daten in Form von spezifizierten „Medizinischen Informationsobjekten“ (MIO) ersetzt würden. Hierzu sei bereits eine mehrjähriger Zeitplan und Verfahrensordnung erarbeitet worden.
gematik-Geschäftsführer Dr. Markus Leyck Dieken sagte zu, bei allen zukünftigen Spezifikationen den Praxisnutzen fest im Blick zu haben und bekräftigte, eine stärkere Rolle in der Koordination der Digitalisierung im Gesundheitswesen ausüben zu wollen. Entscheidend sei, dass die Digitalisierung dazu führe, dass mehr Zeit für das Arzt-Patientengespräch zur Verfügung stehe und Diagnosen im Sinne einer personalisierten Medizin schneller und treffsicherer als bislang gestellt würden. Der Patient müsse zum Herrn seiner Daten werden und bestehende „Kurfürstentümer“ im deutschen Gesundheitswesen aufgelöst werden. Dieken kündigte an, bis zum Jahr 2025 eine forschungskompatible ePA einführen zu wollen. Grundsätzlich werde die gematik nur noch international anschlussfähige Standards zur Grundlage ihrer weiteren Entwicklungen machen.
Von den österreichischen Erfahrungen mit der Einführung der dortigen elektronischen Gesundheitsakte (ELGA) berichtete Mag. Eva-Maria Pfandlsteiner, LL.M vom dortigen Bundessozialministerium. Bewährt habe sich ein sukzessiver Roll-Out. Dabei sei der konkrete Praxisnutzen entscheidend für die Akzeptanz der einzelnen Anwendungen. Hierzu stellte sie die Idee eines zukünftigen „Datencockpits“ als nutzerfreundliche Darstellungsform der elektronischen Akte vor. Voraussetzung für derartigen Zusatznutzen sei allerdings eine strukturierter Dokumentation und Datenhaltung in der elektronischen Akte.
Dr. Bernhard Tenckhoff, Kassenärztliche Bundesvereinigung. © TMF e.V.
Dr. Markus Leyck Dieken, Geschäftsführer gematik GmbH. © TMF e.V.
Mag. Eva-Maria Pfandlsteiner, LL.M, Bundesministerium für Arbeit, Soziales, Gesundheit und Konsumentenschutz der Republik Österreich. © TMF e.V.
Prof. Dr. Thomas Ganslandt, Universitätsmedizin Mannheim. © TMF e.V.
Entwickler Digitaler Innovationen sehen Unterstützungsbedarfe
Mehr Unterstützung wünschten sich laut Prof. Dr. Rainer Röhrig (Uniklinik RWTH Aachen) sowohl Forschende als auch Anbieter digitaler Gesundheitsanwendungen in Hinblick auf die erheblichen Anforderungen aus dem neuen europäischen Medizinprodukterecht, damit Innovationen auch tatsächlich den ersten Gesundheitsmarkt erreichen könnten. So führe die zukünftige Einstufung von Software, auf deren Basis Diagnose-, Therapie- oder anderweitige medizinische Entscheidungen getroffen werden kann, als Medizinprodukt der Risikoklassen 2a bis 3 zu erheblichen Aufwendungen in Hinblick auf die Entwicklung und Implementierung der damit verbundenen besonderen Qualitätsmanagementprozesse und Dokumentationspflichten. In jedem Fall würden die Entwicklungskosten steigen, die im Start-Up-Bereich vorzufinanzieren wären und im Rahmen von Forschungsvorhaben zu budgetieren seien. Die Errichtung von Kompetenzzentren und eine bundesweite Plattformbildung könnten dazu beitragen, diese Bedarfe mit effizientem Mitteleinsatz zu adressieren.
Einigkeit herrschte mit Blick auf das Ziel, digitale Innovationen schneller als bislang für Patientinnen und Patienten zugänglich zu machen. Deutlich wurde aber zugleich, dass es dabei keine Abstriche bei Patientensicherheit und Nutzennachweis geben dürfe. Dr. Ing. Wolfgang Lauer vom Bundesinstitut für Arzneimittel und Medizinprodukte betonte, dass alle „Apps auf Rezept“ bereits vor einer Erprobungsphase als Medizinprodukt in Hinblick auf Sicherheit und Funktion zugelassen sein werden. Auch werde das zukünftige Verzeichnis digitaler Gesundheitsanwendungen zur diesbezüglichen Markttransparenz beitragen.
Dr. Monika Lelgemann, unparteiisches Mitglied im gemeinsamen Bundesausschuss, berichtete unter anderem aus den praktischen Erfahrungen der Methodenbewertung und Konsequenzen aus den Regelungen des DVG. Eine gravierende Änderung im DVG sei die gesetzliche Festlegung, dass Medizinprodukte der Risikoklasse I und IIa niemals eine neue Untersuchungs- und Behandlungsmethode (NUB) sein könnten. Mit Interesse werde der G-BA beobachten, wie das BfArM positive Versorgungseffekte interpretiere. Wichtig für die zügige Translation neuer Erkenntnisse und die Einführung von Versorgungsinnovationen sei darüber hinaus, die Innovatoren dabei zu unterstützen, dass schon bei Antragsstellung aussagekräftige und beratungsfähige Unterlagen vorlägen.
Aus Anbieterperspektive beschrieb Alexander Pröll von der Entrance-Gesellschaft für Künstliche Intelligenz und Robotik die Herausforderung des erwarteten Nutzennachweises. Entsprechende Studien seien mit hohen finanziellen Aufwendungen, einer steilen Lernkurve und einem substantiellen Personaleinsatz verbunden. Deshalb sei es wichtig, gezielt regionale Netzwerke aus Universitäten, Start-Ups und Wirtschaftsförderung zu knüpfen. Entrance hat jüngst den humanodien Roboter „Pepper“ als Assistenz, Therapiebegleiter und Präventionshilfe auf den zweiten Gesundheitsmarkteingeführt. In Rahmen der Pilotierung sah man sich insbesondere mit dem Fehlen zentraler Ansprechpartner für die Beantragung von Fördergeldern und konfrontiert.
Um insbesondere auch Unsicherheiten von Ärztinnen und Ärzten vor einer möglichen Verordnung digitaler Gesundheitsanwendungen zu begegnen und objektive Entscheidungshilfen an die Hand geben zu können, stellte Dr. Johannes Bittner mit AppQ ein von der Bertelsmann-Stiftung erarbeitetes Gütekriterienkernset für digitale Gesundheitsanwendungen vor. Dieses sei gemeinsam mit Fokusgruppen aus Patientinnen und Patienten, Gesunden, Angehörigen der Heilberufe, Krankenkassen, Datenschutzbehörden und den medizinischen Fachgesellschaften ermittelt worden und beinhalte in einer ersten Version 24 Kriterien aus neun Themenbereichen, die im Rahmen einer qualifizierten Selbstauskunft durch den Anbieter eindeutig beantwortet werden können. Zukünftig soll unter der Marke „weiße Liste“ eine Datenbank aufgebaut und über eine standardisierte Schnittstelle abfragbar gemacht werden.
Alexander Pröll von der Entrance-Gesellschaft für Künstliche Intelligenz und Robotik stellte den humanoiden Roboter "Pepper" vor. © TMF e.V.
Dr. Johannes Bittner, Bertelsmann-Stiftung. © TMF e.V.
Prof. Dr. Rainer Röhrig, Uniklinik RWTH Aachen. © TMF e.V.
Dr. Ing. Wolfgang Lauer, Bundesinstitut für Arzneimittel und Medizinprodukte. © TMF e.V.
Dr. Monika Lelgemann, Unparteiisches Mitglied des Gemeinsamen Bundesausschusses. © TMF e.V.
Dr. Wojciech Samek, Fraunhofer Heinrich-Hertz-Institut. © TMF e.V.
Neuronale Netzwerke beim Denken beobachten
Einen spannenden Einblick in das KI-Labor gab anschließend Dr. Wojciech Samek vom gastgebenden Fraunhofer Heinrich-Hertz-Institut. So sei für die Akzeptanz von KI-basierten Entscheidungsunterstützungssystemen die Transparenz der Lernbedingungen und –strategien des zu Grunde liegenden Algorithmus zentral. Die Interpretierbarkeit helfe, die Black Box des Algorithmus zu öffnen und das zu Grunde liegende Modell zu verstehen, Bias und Unzulänglichkeiten des Lerndatenkörpers zu erkennen und verschiedene Trainingsstrategien effektiv zu vergleichen. Ein Instrument seien so genannte „Heatmaps“, in denen der Beitrag jedes Bildelementes zum Lernergebnis visualisiert werde.
Digitale Versorgungsinnovationen aus der Forschung
Eine auf KI-Algorithmen beruhende Entscheidungsunterstützung für Zahnmedizinerinnen und –mediziner stellte Prof. Dr. Falk Schwendicke von der Charité-Universitätsmedizin Berlin vor. Das Programm dentalXr.ai erstellt als marktfähiges Ergebnis translationaler Forschung anhand validierter Lerndaten grafisch annotierte Ansichten digitaler Röntgenaufnahmen. Ziel sei es, die anhand von ca. 55 Millionen Röntgenbildern jährlich durchgeführte Diagnostik in kürzerer Zeit und anhand objektiver Kriterien durchzuführen. Tests zeigten, dass das Modell bessere Diagnostik biete, mehr Zeit für den Patienten bliebe und diesen die Aufnahme verständlicher erläutert werden könne. Perspektivisch solle die KI auch prognostische Beurteilungen abgeben und so zu einer gezielten Prävention von Zahnerkrankungen beitragen.
Anschließend präsentierte Dr. Wiebke Schirrmeister (Otto-von-Guericke-Universität Magdeburg) mit dem AKTIN-Notaufnahmeregister eine im Zuge eines Forschungsvorhabens aufgebaute Registerstruktur zur strukturierten Erfassung der Versorgungsrealität in den Notaufnahmen. Anhand von rund 500.000 neuen Registereinträgen pro Jahr konnte ein Benchmarking für die leitliniengerechte Prozessoptimierung entwickelt werden. Die Berichte erleichtern Qualitätssicherung und –management und tragen zur effektiven Prozess- und Ressourcensteuerung in den Notaufnahmen bei. Die Registereinträge erfordern dabei keine separate Dateneingabe, sondern werden automatisiert aus der Primärdokumentation gespeist. Dies habe im Vorfeld eine Verständigung zur inhaltlichen, semantischen und syntaktischen Standardisierung erfordert. Inzwischen sei das einheitliche DIVI-Notaufnahmeprotokoll direkt in die Dokumentationssysteme integriert.
Dr. Wiebke Schirrmeister, Otto-von-Guericke-Universität Magdeburg. © TMF e.V.
Prof. Dr. Falk Schwendicke, Charité-Universitätsmedizin Berlin. © TMF e.V.
Bundespatientenbeauftragte Prof. Dr. Claudia Schmidtke, MdB, und Prof. Dr. med. Wolfgang Hoffmann, MPH, Universitätmedizin Greifswald. © TMF e.V.
Kultur der Datenteilung fördern und Patientennutzen in den Mittelpunkt rücken
Eine wichtige Voraussetzung für ein lernendes Gesundheitswesen und die zukünftige Entwicklung personalisierter Therapien ist die sektorübergreifende Verfügbarkeit einheitlich strukturierter Daten, so die einhellige Einschätzung der Expertinnen und Experten des Abschlusspanels des Symposiums. Dies verlange eine neue Kultur der Transparenz und Datenteilung. So schlug Prof. Dr. med. Wolfgang Hoffmann, MPH (Universitätsmedizin Greifswald) vor, das Modell einer gemeinsamen Arzt-Patienten-Akte auch in Deutschland zu erproben. Auch dürfe der Datenschutz nicht dazu führen, dass Menschen von der Teilhabe am medizinischen Fortschritt ausgeschlossen würden und durch unzureichende Datenverfügbarkeit entstehende Fehlbehandlungen und –versorgung hingenommen würden. Hierzu müsse die bisherige Risiko-Nutzenabwägung neu austariert werden.
Entscheidend für die Akzeptanz digitaler Angebote sei, so Priv.-Doz. Dr. med. Peter Bobbert, Mitglied des Vorstandes der Bundesärztekammer, dass die Nutzbarkeit im Praxisalltag von Anfang an mitgedacht werde. Es gehe nicht per se um eine andere Medizin, vielmehr müsse im Zentrum eines europäischen Digitalisierungspfades der Anspruch einer besseren Medizin stehen. Gut gemachte Digitalisierung werde dazu beitragen, Abläufe effizient zu gestalten und Zeit für die Kernaufgaben der Ärztinnen und Ärzte frei zu machen, so auch Prof. Dr. Jörg Debatin vom Health Innovation Hub des Bundesministeriums für Gesundheit. Allerdings sei es richtig und wichtig, nunmehr miteinander ins das „Doing“ einzusteigen und dann bei Bedarf entsprechend nachzusteuern. Die Bundespatientenbeauftragte Prof. Dr. Claudia Schmidtke, MdB, schlug den Bogen zu den Erwartungen der Patientinnen und Patienten: Digitale Innovationen – seien es Patienten-Apps, diagnostische Entscheidungshilfen oder schlicht die Tatsache, dass wichtige Informationen dann tatsächlich verfügbar sind, wenn sie für die Prävention und Therapie benötigt werden – müssten sich an ihrem konkreten Beitrag für eine bessere Behandlung messen lassen. Dr. Johannes Bittner verwies schließlich basierend auf den Ergebnissen der #SmartHealthSystems-Studie der Bertelsmann-Stiftung auf die Notwendigkeit einer Gesamtstrategie und Koordinationsinstanz für die digitale Gesundheit in Deutschland.
Für die Veranstalter zog GVG-Geschäftsführer Dr. Sven-Frederik Balders ein positives Resümee: „Am Ende eines Jahres des digitalen Um- und Aufbruchs im deutschen Gesund-heitswesen suchen alle maßgeblichen Akteure den Schulterschluss zur patientenorientierten Gestaltung des digitalen Wandels. Das sind gute Startvoraussetzungen für ein spannendes E-Health-Jahr 2020, das ganz im Zeichen der deutschen EU-Ratspräsidentschaft stehen wird. Anlass genug, den begonnenen Dialog fortzusetzen und praktisch werden zu lassen.“
Das lernende Gesundheitssystem im Blick - Paneldiskussion auf dem Nationalen Digital Health Symposium mit v. l. n. r.: Prof. Dr. Jörg Debatin, MBA (Health Innovation Hub), Priv.-Doz. Dr. med. Peter Bobbert (Bundesärztekammer), Prof. Dr. Claudia Schmidtke (MdB, Bundesbeauftragte für die Belange der Patientinnen und Patienten), Prof. Dr. med. Wolfgang Hoffmann, MPH (Universitätsmedizin Greifswald) und Dr. Franz Bartmann (Moderation).. © TMF e.V.
Sven Frederick Balders, Geschäftsführer der Gesellschaft für Versicherungswissenschaften und -gestaltung e.V. © TMF e.V.
Galerie
NDHS 2019. © TMF e.V.
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