„Die Forschung wird aufgewertet“
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Die Versorgungsforschung erhielt im Jahr 2012 gleich durch mehrere Initiativen des Gesetzgebers Aufwind. In Deutschland traten das GKV-Versorgungsstrukturgesetz und die Datentransparenzverordnung in Kraft. Außerdem legte die EU-Kommission Anfang 2012 einen Entwurf für eine neue EU-Datenschutzgrundverordnung vor, die bis Ende 2013 in Kraft treten soll. Alle genannten Vorschriften erleichtern die Nutzung pseudonymisierter Patientendaten für Forschungszwecke. Prof. Hoffmann erläutert im Interview, warum er diese Entwicklung für richtig und wichtig hält.
Sowohl das GKV-Versorgungsstrukturgesetz als auch die geplante neue EU Datenschutzgrundverordnung wollen die Nutzung von Versorgungsdaten für die medizinische Forschung erleichtern. Was wird in Zukunft anders?
Der für mich wichtigste Punkt an der EU-Datenschutzgrundverordnung ist die explizite Aufwertung der Erhebung von Daten zu Forschungszwecken. Dies unterstreicht die politisch gewollte, zunehmende Rolle der Versorgungsforschung für die Messung der medizinischen Versorgungsqualität. Die EU-Datenschutzgrundverordnung entspricht damit der politischen Zielsetzung, die auch im Arzneimittelmarktneuordnungsgesetz mit dem Konzept der frühen Nutzenbewertung, im Versorgungsstrukturgesetz und insbesondere der dazugehörigen Datentransparenzverordnung sowie im Krebsfrüherkennungs- und Krebsregistergesetz zum Ausdruck kommt.
Welche rechtlichen und ethischen Fragen stellen sich im Zusammenhang der Forschung mit Versorgungsdaten?
Im Datenschutzrecht steht das Recht des Einzelnen auf informationelle Selbstbestimmung dem öffentlichen Interesse an der Beantwortung von Forschungsfragen gegenüber. In der Versorgungsforschung wiegt das öffentliche Interesse besonders schwer, denn ihre Ergebnisse haben oft direkte Auswirkungen auf die medizinische Versorgung, z.B. können sie die Basis für Erstattungsentscheidungen sein und die Preisgestaltung von Medikamenten beeinflussen. Versorgungsforschung untersucht zum Beispiel, ob ein neues Medikament, Verfahren oder Medizinprodukt tatsächlich wirksam ist, Krankenhausaufenthalte verkürzen kann oder wie lange bestimmte Implantate funktionsfähig bleiben. Viele Fragen kann die Versorgungsforschung nur mit pseudonymisierten, nicht mit anonymisierten Daten beantworten. Deshalb sollte die Nutzung pseudonymisierter Patientendaten zu Forschungszwecken typischerweise nicht durch einzelne Patienten beliebig einschränkbar sein. Voraussetzung ist dabei, dass entsprechende Sicherheitsmechanismen, z.B. eine Treuhandstelle, die personenidentifizierenden Patientendaten schützen.
Seitdem der britische Premierministers David Cameron angekündigt hat, die zentral gespeicherten, anonymisierten Versorgungsdaten des National Health Service für Forschungsprojekte der Pharmaindustrie freizugeben, gibt es in Großbritannien eine öffentliche Debatte über den Schutz von Patientendaten. Wie berechtigt sind die Ängste der Bevölkerung?
Unter der Voraussetzung, dass eine Identifizierung der Patienten ausgeschlossen ist, das Forschungsvorhaben die ethischen Voraussetzungen für eine Nutzung erfüllt und die Daten ausschließlich an sachkundige und verantwortliche Wissenschaftler weitergegeben werden, halte ich diese Ängste für unbegründet. Grundsätzlich sollten Daten, die rationale Entscheidungen im Gesundheitswesen unterstützen, nach Prüfung der Machbarkeit des Projektes und der Qualifikation des Antragstellers sowohl der akademischen als auch der industriellen Forschung zugänglich sein. Davon sind wir derzeit noch weit entfernt!
Die Patientenrechte müssen dabei durch Anonymisierung oder effektive Pseudonymisierung der Daten gewahrt werden. Dies setzt aus meiner Sicht nicht zwingend die Einwilligung jedes einzelnen Patienten voraus. In bestimmten Konstellationen kann die Forderung nach individueller Einwilligung sogar zu einer Verzerrung der Forschungsergebnisse führen. Dies wäre beispielsweise dann der Fall. wenn an einer Studie nur besonders betroffene Patienten der Nutzung ihrer Daten zustimmen - oder umgekehrt gerade diese eine Verwendung ablehnen.
Die TMF ist auch in Deutschland an Projekten beteiligt, die die Nutzung von Versorgungsdaten für die wissenschaftsgetriebene medizinische Forschung erleichtern, z.B. am FuE-Projekt zur elektronischen Patientenakte (ePA) gemäß § 291a SGB V das vom Bundesgesundheitsministerium gefördert ist. Wird letztlich auch hierzulande die Pharmaindustrie umfangreichen Zugriff auf Patientendaten erhalten?
Die pharmazeutische Industrie ist nicht nur ein wichtiger Akteur im medizinischen Versorgungssystem, sondern auch ein Partner in der Versorgungsforschung. Insofern ist davon auszugehen, dass die bisher erst in Ansätzen vorhandene Versorgungsforschung in der pharmazeutischen Industrie in Zukunft deutlich zunehmen wird.
Prinzip des Datenschutzes ist die Abwägung des Forschungsinteresses an einer bestimmten Frage gegenüber der informationellen Selbstbestimmung der Patienten. Es wäre der falsche Weg, relevante Gesundheitsdaten der Forschung vorzuenthalten – gleich ob es sich um akademische oder industrielle Forschung handelt. Jede Forschung muss jedoch sinnvoll, relevant, mit den Daten möglich, und ethisch zulässig sein. Der Forscher muss seine Qualifikation nachweisen und verantwortungsbewusst handeln.
Welche Konzepte zum Schutz von Patientendaten gibt es bei der TMF, um die Forschungsinteressen der akademischen Forschung zu berücksichtigen und die Patienten trotzdem abzusichern?
Die TMF verfügt über zweistufige, qualitätsgesicherte und mit den Landesdatenschützern abgestimmte Verfahren, mit denen man Patientendaten sehr sicher pseudonymisieren kann. In der EU-Datenschutzgrundverordnung geht es um den Typ der Morbi RSA – Daten, die die Kassen im Rahmen des morbiditätsorientierten Risikostrukturausgleichs erheben. In Zukunft sollte auch die Transparenz weiterer Daten aus dem Gesundheitssystem, wie Gesundheits- und Sozialdaten Rentendaten, Daten der Kassenärztlichen Vereinigung für den ambulanten Bereich etc. hergestellt werden. An der Identifikation dieser Datenarten wird sich die TMF aktiv beteiligen.
Herr Professor Hoffmann, wir danken für das Gespräch.
Das Interview führte Beate Achilles. Es erscheint auch in der Zeitschrift E-Health-COM 1 | 2013.
Prof. Dr. med. Wolfgang Hoffmann ist Leiter des Instituts für Versorgungsepidemiologie und Community Health an der Universität Greifswald und Mitglied im Vorstand der TMF sowie des Deutschen Netzwerks Versorgungsforschung (DNVF).