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Zukunft medizinischer Forschung: Wissenschaftler setzen Qualitäts­maß­nah­men um, Institutionen befähigen sie dazu, Förderer fordern Standards ein

Gemeinsames Symposium von TMF und Cochrane Deutschland – Thesen und Handlungsempfehlungen zum Abbau von Ineffizienz

© TMF e.V.

Wissenschaftler, wissenschaftliche Institutionen und Förderpolitik sind – neben weiteren Akteuren wie z.B. wissenschaftlichen Verlagen – gleichermaßen gefordert, wenn Ineffizienzen in der biomedizinischen Forschung künftig verhindert werden sollen: Der einzelne Wissenschaftler muss die Qualitätsmaßnahmen umsetzen, die Institution muss ihn oder sie dazu befähigen und geeignete Anreize schaffen, die Förderpolitik hat über die Projektförderung die Möglichkeit, die Einhaltung bestimmter Standards verbindlich zu gestalten: Beispielsweise könnte die Auszahlung eines Teils der Fördermittel an die Veröffentlichung der Ergebnisse geknüpft werden. Dieses Fazit zogen Referenten und Teilnehmer eines gemeinsam von Cochrane Deutschand und der TMF am 24. September 2015 in Berlin veranstalteten Symposiums.

Teilnehmer und Referenten diskutierten mögliche Maßnahmen, um Infeffizienzen in der medizinischen Forschung in Zukunft zu vermeiden. © TMF e.V.

Teilnehmer und Referenten diskutierten mögliche Maßnahmen, um Infeffizienzen in der medizinischen Forschung in Zukunft zu vermeiden. © TMF e.V.

Teilnehmer und Referenten diskutierten mögliche Maßnahmen, um Infeffizienzen in der medizinischen Forschung in Zukunft zu vermeiden. © TMF e.V.

Patienten wollen als Partner medizinische Forschung mitgestalten

Die Prioritäten von Patienten, beispielsweise hinsichtlich akzeptierbarer Nebenwirkungen von Therapien, unterscheiden sich deutlich von denen von Ärzten, Pflegern und auch Angehörigen. Dies berichtete Jan Geißler (European Patients‘ Academy on Therapeutic Innovation). Patientenorganisationen wollten deshalb in Partnerschaft mit Forschung, Klinik und Industrie an der Priorisierung und Gestaltung von Forschung mitwirken. Der alte Begriff „Selbsthilfe“ sei hierfür nicht mehr passend, international werde die Arbeit als „patient advocacy“ bezeichnet. 

Die Aufgaben von Patientenorganisationen im Zusammenhang mit Forschung seien vielfältig und reichten vom Erwartungsmanagement (Hoffnungen in Bezug auf Forschung an neuen Interventionen) über die Mitwirkung an der Verbesserung des Studiendesigns und die Verbesserung der Patienteninformationen bis zur Kommunikation von Studien und ihren Ergebnissen an die Patienten bzw. in die Praxis. International sei diese Beteiligung schon gelebte Praxis, in Deutschland gebe es jedoch teilweise noch Berührungsängste.

Die im Rahmen der Innovative Medicines Initiative geförderte (80% EU-Mittel, 20% Industrie-Mittel) Europäische Patientenakademie EUPATI habe zum Ziel, Patienten für die konstruktive Mitarbeit methodisch auszubilden. Schwerpunkt sei der Arzneimittelentwicklungsprozess von der Grundlagenforschung bis zur Anwendung. Im Rahmen des Projektes würden insgesamt 100 Patientenvertreter geschult, außerdem wird ein „Werkzeugkasten“ erarbeitet und in zahlreichen europäischen Sprachen frei zur Verfügung gestellt. Die deutsche Version sei derzeit in Vorbereitung und werde im Januar 2016 veröffentlicht.

Auch Folgen der strukturellen Veränderung in der Versorgung erforschen

Forschung auf den Nutzen für Bürger auszurichten forderte Wolfram-Arnim Candidus (Bürger Initiative Gesundheit). Dabei sollte auch die strukturelle Veränderung der Versorgung und die Vernetzung zwischen den Akteuren Gegenstand von Forschung sein. 

Jan Geißler

Jan Geißler (European Patients‘ Academy on Therapeutic Innovation). © TMF e.V.

Wolfram-Arnim Candidus

Wolfram-Arnim Candidus (Bürger Initiative Gesundheit). © TMF e.V.

Peer review deckt Mängel in wissenschaftlichen Artikeln zu selten auf

Die wissenschaftlichen Fachverlage kommen erst im letzten Schritt ins Spiel, wenn die Forschungsergebnisse berichtet werden. Dies betonte Niall Boyce (The Lancet). Bereits 1965 habe Sir Austin Bradford Hill die vier Fragen formuliert, die ein Forschungsbericht beantworten muss: Welche Frage wurde untersucht und warum? Was wurde getan? Was wurde gezeigt? Was bedeuten die Ergebnisse im Kontext anderer Forschung? Glaziou et al. haben allerdings 2014 dargelegt, dass die meisten wissenschaftlichen Artikel, die Ergebnisse biomedizinischer Forschung präsentieren, auch heute noch große Mängel aufweisen. Insbesondere habe sich das System des Peer review nicht als geeignet erwiesen, diese Mängel zu beseitigen. 

Herausgeber könnten zur Verbesserung der Berichte beitragen, indem sie Autoren und Reviewer hinsichtlich der Anforderungen an einen wissenschaftlichen Bericht besser schulten und insbesondere auch darauf achteten, dass die Ergebnisse in den Kontext bisheriger Forschung gestellt werde. Ein weiteres Element, das von verschiedenen Journalen unterschiedlich offen oder restriktiv eingesetzt werde, sei die wissenschaftliche Kommentierung nach der Veröffentlichung. Sein eigener Verlag sei hier bisher noch eher zurückhaltend, während beispielsweise das British Medical Journal einen eher offenen Ansatz verfolge.

Big Data: Korrelation ersetzt Kausalität – Es fehlen Konzepte und Standards

„Die medizinische Forschung ist infrastrukturell nicht vorbereitet auf Big Data.“ Dies sagte der TMF-Vorstandsvorsitzende Prof. Dr. Michael Krawczak (Universitätsklinikum Schleswig-Holstein, Campus Kiel). Big Data sei eine Entwicklung, die aus der Technologiebranche, die völlig andere Ziele und Anforderungen habe, in die medizinische Forschung gekommen. Methodisch problematisch sei hier insbesondere die Ablösung der Suche nach Kausalität durch die Suche nach Korrelationen.

Auch wenn Big Data fast allen wesentlichen Kriterien zur Sicherung von Qualität und Vermeidung von Forschungsmüll, wie sie in der Lancet-Serie im Januar 2014 zusammengefasst wurden, widersprechen, müssten sich die Methodiker an den Forschungseinrichtungen dennoch mit den Anforderungen auseinandersetzen. Übergreifende Konzepte seien jedoch hierfür nicht vorhanden, die Interoperabilität sei mangelhaft und Standards fehlten. Weitere Herausforderungen seien beispielsweise heterogene Datentypen und unklare ethische und rechtliche Rahmenbedingungen. Es sei notwendig, die Daten verfügbar, verknüpfbar und verwertbar zu machen.  

Um diese Herausforderungen bewältigen zu können, bedürfe es insbesondere einer nachhaltigen Finanzierung für Forschungsinfrastrukturen, besserer Aus- und Weiterbildungsangebote sowie übergreifender Kommunikations- und Abstimmungsplattformen wie beispielsweise die TMF. Auch die Nationale Initiative Medizininformatik des BMBF könne hier einen wichtigen Beitrag leisten, beispielsweise bei der Abstimmung gemeinsamer Datenstandards oder bei der Definition von Interoperabilitätskriterien.

Niall Boyce von The Lancet

Niall Boyce (The Lancet). © TMF e.V.

Prof. Dr. Michael Krawczak

Prof. Dr. Michael Krawczak (Universitätsklinikum Schleswig-Holstein, Campus Kiel). © TMF e.V.

Prof. Dr. Ulrich Dirnagl

Prof. Dr. Ulrich Dirnagl (Charité – Universitätsmedizin Berlin). © TMF e.V.

Dr. Martin Langanke

Dr. Martin Langanke (Ernst-Moritz-Arndt-Universität Greifswald). © TMF e.V.

Chochrane Deutschland

Handlungsempfeh­lungen von Cochrane Deutschland und TMF

Anlässlich des gemeinsamen Symposiums haben Cochrane Deutschland und die TMF Thesen und Handlungsempfehlungen formuliert und veröffentlicht. Darin sprechen sie sieben infrastrukturelle Aspekte an, die zum Abbau von Ineffizienz in der medizinischen Forschung in Deutschland beitragen können: 

  • Effizienterer Fördermitteleinsatz bedarf eines besseren Überblicks.
  • Ethische, rechtliche und methodische Aspekte verlangen eine stärkere Berücksichtigung.
  • Die dauerhafte Nutzbarkeit von Forschungsinfrastrukturen wie Daten- und Probenbanken muss abgesichert werden.
  • Projekt- und disziplinübergreifende Standards müssen von der Wissenschafts-Community selbst definiert werden.
  • Studienergebnisse müssen transparent und validierbar sein.
  • Die Priorisierung medizinische Forschung muss die Bedürfnisse von Patienten berücksichtigen.
  • Alle Interessengruppen müssen am Diskurs zur Forschungseffizienz partizipieren.

Beide Organisationen werden außerdem die REWARD-Kampagne unterstützen, die im Januar 2014 durch einen Sonderband der Zeitschrift Lancet initiiert wurde und die im Rahmen der REWARD/EQUATOR-Konferenz am 30. September 2015 gelauncht werden soll. Sie rufen den deutschen Wissenschaftsbetrieb auf, sich dieser Entwicklung aktiv anzuschließen.

(Wir weisen darauf hin, dass die Vortragsfolien dem Nachvollziehen der Veranstaltung dienen und ohne ausdrückliche Zustimmung der Autoren nicht zur weiteren Verwendung genutzt werden dürfen.)

Prof. Dr. Gerd Antes von Cochrane Deutschland

Prof. Dr. Gerd Antes (Cochrane Deutschland). © TMF e.V.

50 Prozent der Ergebnisse aller Studien werden nicht publiziert, überwiegend solche, die für eine Intervention keinen Effekt nachweisen konnten. Dies führe zu einem Überoptimismus bezüglich der Wirksamkeit einer Intervention. Therapieentscheidungen, die auf einer falschen Wissensbasis beruhten, brächten Schaden für den Patienten. Dies ist nur eines der Problemfelder aktueller medizinischer Forschung, die Prof. Dr. Gerd Antes (Cochrane Deutschland) in seiner Einführung skizzierte. Er stellte fest, dass kein einzelner Akteur das Problem alleine lösen kann.

Methodische Mängel in der experimentellen Forschung

„Die experimentelle Forschung ist methodisch eher noch weiter zurück als die klinische Forschung.“ Dies sagte Schlaganfallforscher Prof. Dr. Ulrich Dirnagl (Charité – Universitätsmedizin Berlin). Dies spiegele sich unter anderem darin, dass die meisten Ergebnisse experimenteller Forschung keine Anwendung in der Behandlung von Menschen fänden. So sei beispielsweise im Bereich der Schlaganfallforschung gezeigt worden, dass sich von mehr als 1000 Experimenten lediglich eine Intervention in einer klinischen Prüfung am Menschen als effektiv erwiesen habe.

Die interne und die externe Validität und die statistische Power sei in der Regel zu niedrig. So werde beispielsweise in experimentellen Studien nur selten randomisiert oder verblindet. ‚Forschung über Forschung‘ habe nachgewiesen, dass die Effektstärke in randomisierten und verblindeten Studien nur halb so stark sei wie in nicht-randomisierten, nicht-verblindeten Studien. Überdies sei auch die Dropout-Rate der Versuchstiere in einem Großteil der Studien entweder gar nicht dokumentiert oder nicht erklärt. 

Mögliche Lösungen reichen von Open access Publikationen über Fragen der Ausbildung und elektronische Laborbücher bis hin zur Implementierung eines strukturierten Qualitätsmanagements und letztlich zur Entwicklung neuer Indikatoren für die Qualität von Forschung und neue Formen der Inzentivierung für Wissenschaftler. Leider, so Dirnagl, seien die Maßnahmen, die die größte Wirkung hätten, auch die, die am schwierigsten umzusetzen seien. „Wenn wir es dem Wissenschaftler überlassen, wird nichts passieren – er hat gute Gründe.“ Deshalb seien hier die Institutionen und die Förderer zum Handeln aufgerufen.

Medizinische Forschung muss sich an der Erreichung ihrer Ziele messen

Schon Aristoteles hat festgestellt, dass Medizin eine praktische Wissenschaft ist. „Erkenntnis in der Medizin ist nicht Selbstzweck. Sie muss sich an der Erreichung ihrer Ziele messen.“ Das sagte Dr. Martin Langanke (Ermst-Moritz-Arndt-Universität Greifswald), der vor diesem Hintergrund die schlechte Konversionsrate von der Grundlagenforschung in die praktische Anwendung beim Menschen bemängelte. Er sehe hier neben der Kosten-Ineffizienz auch ein allokationsethisches und ein Glaubwürdigkeitsproblem.

Langanke beleuchtete insbesondere kritisch die unspezifischen Zweckdefinitionen und Ziele der personalisierten Medizin und der Systemmedizin, die sich meist nicht von den allgemeinen Zielen medizinischer Forschung abgrenzten. Damit entzögen sie sich auch einer sinnvollen Bewertung, so dass ihr Erfolg oder Misserfolg kaum klar eingeschätzt werden könnte. So abgegriffen die Forderung nach „SMARTen“ Zielen auch sei, plädiere er dennoch dafür, die Ziele biomedizinische Forschung möglichst spezifisch, messbar, akzeptiert, realistisch und terminiert zu formulieren.

Dringend müssten etablierte Tiermodelle auf externe Validität überprüft werden, führte Langanke weiter aus. Auch wenn Modellorganismus (z.B. Maus) und Zielorganismus (Mensch) vor einer Intervention in bestimmten Merkmalen identisch seien, sei könnten diese Merkmale nach der Intervention in den verschiedenen Organismen deutlich unterschiedlich ausgeprägt sein. Dies sei ein Problem komplexer Organismen und habe mit der evolutionär unterschiedlichen Entwicklung der verschiedenen Spezies zu tun.