Pressemitteilung

TMF-Experten fordern bessere medizinische Behandlung für Kinder

Sichere Arznei­mittel und optimale Therapie­konzepte im Schulter­schluss entwickeln

Gesprächsrunde

Experten und Journalisten trafen sich in Berlin, um die zahlreichen Facetten des Themas "Klinische Forschung bei Kindern" gemeinsam zu beleuchten. © TMF e.V.

Künftig werden Kinder immer häufiger sichere Arzneimittel und optimale, auf sie zugeschnittene Behandlungen erhalten. Die EU-Verordnung über Kinderarzneimittel, die im Januar 2007 in Kraft getreten ist und nun umgesetzt werden muss, ist ein wichtiger Schritt in diesem Prozess: Sie verpflichtet die pharmazeutische Industrie dazu, alle neuen Medikamente auch speziell für Kinder und Jugendliche anzupassen und zu prüfen. Bisher fehlten für viele medizinische Fragestellungen im Kindesalter klinische Studien, so dass Kinderärzte häufig keine andere Wahl haben als Substanzen einzusetzen, die nicht speziell für die kleinen Patienten zugelassen sind.

„Dies betrifft keine kleine Gruppe: Bei rund 16 Millionen Kindern und Jugendlichen unter 18 Jahren sind dies 20 Prozent der Bevölkerung Deutschlands“, betonte Professor Dr. Fred Zepp am 11. September 2007 in einer Veranstaltung der Telematikplattform für Medizinische Forschungsnetze (TMF) in Berlin. „Es handelt sich hierbei um eine bedeutsame Entwicklung, die allerdings vorwiegend in die Zukunft gerichtet ist. Längerfristig müssen wir auch die Prüfung und Zulassung der Wirkstoffe erreichen, die bei Kindern schon lange im so genannten ‚Off-label-use’ – eben ohne spezifische Zulassung – im Einsatz sind und gerade bei schwerwiegenden Erkrankungen dringend benötigt werden.“ Zepp ist Direktor des Zentrums für Kinder- und Jugendmedizin der Universität Mainz und Koordinator des Pädiatrischen Netzwerks (PAED-Net) der Koordinierungszentren für Klinische Studien und damit Teil der Forschergemeinschaft, die sich in der TMF zusammengeschlossen hat, um übergreifende Fragen der vernetzten medizinischen Forschung gemeinsam zu lösen. 

Kinder sind keine kleinen Erwachsenen: Um ein Kind mit einem für Erwachsene erprobten Wirkstoff zu behandeln, reicht es nicht, mit einfachem Dreisatz die Dosis aus dem Körpergewicht zu berechnen. „Neugeborene beispielsweise haben eine viel dünnere Haut als Erwachsene. Wenn Sie also ein Medikament über die Haut applizieren, müssen Sie bedenken, dass der Wirkstoff ganz anders aufgenommen wird“, erklärte der Pädiater Zepp. Auch der Stoffwechsel funktioniert völlig anders: „Theophylin, ein Medikament, das wir bei Asthma einsetzen, ist ein gutes Beispiel, denn es muss bei Kindesalter viel höher dosiert werden als beim Erwachsenen, weil das Kind es in seinem Körper schneller umsetzt und damit faktisch, um den Wirkspiegel zu erreichen, eine höhere Dosis erfordert.“ Allerdings ist der Aufwand für die Durchführung von pädiatrischen Studien sehr hoch. Erkrankungen bei Kindern sind überdies in der Regel seltene Erkrankungen, zumal verschiedene Altersstufen auch noch separat betrachtet werden müssen: „Sie können nicht vom Zwölfjährigen auf den Zweijährigen schließen“, erläuterte Zepp. Grund hierfür ist der große Unterschied in den Organfunktionen, die Auswirkungen auf Wirksamkeit und Verträglichkeit von Arzneimitteln haben und Dosisentscheidungen bestimmen.

 

Industrie als wichtigen Partner einbeziehen

Solche Fragen klären zu können erfordert ein hohes medizinisches, aber auch wissenschaftlich-methodisches Know-how und die Zusammenarbeit über die einzelne Universitätskinderklinik hinaus. „Pädiatrische Forschung ist lange Zeit in Deutschland ein Stiefkind gewesen, aber die Forschung muss sich auf die Klärung dieser Fragen einstellen“, erklärte Dr. Peter Lange, Leiter der Abteilung Lebenswissenschaften – Forschung für Gesundheit im Bundesministerium für Bildung und Forschung (BMBF). „Das BMBF hat diese Fragen schon recht früh aufgegriffen und fördert verschiedene Netzwerke, so beispielsweise seit 2002 das PAED-Net, das mittlerweile europaweit Vorbildfunktion hat.“ Aufgabe des Netzwerkes ist es, qualifizierte Studienzentren auf- und auszubauen, zur Verbesserung der Arzneimitteltherapie durch verlässliche Daten aus Studien beizutragen sowie Prüfärzte und Studienassistenten auszubilden. Wesentliches Anliegen des BMBF ist nun, die Industrie als wichtigen Partner in den Prozess und die Strukturen der pädiatrischen Forschung noch stärker einzubeziehen. „Um gute Medikamente für Kinder und Jugendliche entwickeln zu können, brauchen wir den Schulterschluss zwischen Industrie und Forschung“, so Lange.

Krebserkrankungen bei Kindern sind glücklicherweise relativ selten. Neue Wirkkonzepte, die unter anderem auf den Erkenntnissen der modernen molekularen Medizin aufbauen, werden deshalb in europaweiter Kooperation von onkologischen Studienzentren für den Einsatz in der Pädiatrie überprüft, damit genügend Patienten zusammenkommen und eine verlässliche Aussage abgeleitet werden kann. Allerdings ist der Aufwand für die Durchführung und Dokumentation solcher Studien enorm hoch, wie Professor Dr. Günter Henze, Leiter der Abteilung für Pädiatrie mit Schwerpunkt Hämatologie und Onkologie an der Berliner Charité und Sprecher des Kompetenznetzes Pädiatrische Onkologie und Hämatologie, betonte. So seien für die erste Studie, die nun nach den Bestimmungen des neuen Arzneimittelgesetzes durchgeführt wird, 300 Euro für die Dokumentation veranschlagt worden – benötigt würde allerdings das Dreifache dieser Summe wie sich in der Zwischenzeit herausgestellt hätte. Henze ergänzte, dass gerade in der Kinderonkologie vor allem Medikamente eine Rolle spielten, die seit langen Jahren für Erwachsene zugelassen seien: „Vor 50 Jahren starben noch 80 bis 90 Prozent aller an Krebs erkrankten Kinder, heute werden vier von fünf Kindern wieder gesund. Diese Erfolge sind nicht primär durch neue Medikamentenentwicklung erreicht worden, sondern durch die Verbesserung der therapeutischen Konzepte, also der Kombinationen und Dosierungen von Wirkstoffen, in so genannten Therapieoptimierungsstudien. Dabei arbeiten die behandelnden Kinderärzte immer am Rande der Legalität, da die Arzneimittel für die Gruppe der Kinder und Jugendlichen nicht formal geprüft und zugelassen sind. Eine Nachzulassung dieser etablierten Medikamente wäre also dringend notwendig.“

 

Elternverbände spielen eine wichtige Rolle

Kinder sind immer Teil einer Familie, deren Kontext der Arzt mitbetrachten muss. Damit unterscheiden sich Therapie und Forschung bei Kindern von der Erwachsenenmedizin grundlegend hinsichtlich der Konsensfindung, der Einwilligung, der Begleitung und der Betreuung. Dabei kommt insbesondere den Elternverbänden eine wichtige Rolle zu. „Der Bundesverband Herzkranke Kinder e.V. (BVHK) fordert schon seit Jahren mehr Arzneimittelsicherheit für Kinder“, berichtete Hermine Nock, die seit 1999 Geschäftsführerin des BVHK ist. Dazu habe der Verband beispielsweise einen Forschungsförderpreis für klinische Studien mit herzwirksamen Medikamenten verliehen, bei denen es erst einmal um Fragen der Dosierung ging, da „bei den Herzerkrankungen die Datenlage noch um Lichtjahre schlechter ist als in der pädiatrischen Onkologie“, wie Nock erläuterte. Der BVHK unterstützt außerdem aktuell mehrere klinische Studien zur Optimierung von Arzneimitteln aus der Kinderkardiologie, die im Rahmen des Kompetenznetzes Angeborene Herzfehler durchgeführt werden.

Wesentliche Aufgabe von Elternverbänden ist außerdem die Vermittlung der Forschungsprojekte an die Eltern. Je kranker das Kind ist, desto höher ist in der Regel auch die Bereitschaft der Eltern, ihr Kind an einer Studie teilnehmen zu lassen: „Eine Befragung von Eltern an der Universität Göttingen hat gezeigt, dass diese sich besser aufgehoben fühlten als Eltern von Kindern, die nicht in eine Studie eingeschlossen waren, weil sie engmaschig kontrolliert und betreut wurden und weil eben viel geredet wurde.“ Zudem besteht die Chance, dass das Kind von einer neuen und erfolgreichen Therapieentwicklung direkt profitieren kann. Eltern können jedoch nach den Erfahrungen von Hermine Nock, die selbst Mutter von Zwillingen ist, häufig nur sehr schwer nachvollziehen, warum es notwendig ist, randomisierte doppelblinde Studien durchzuführen. Die Aufklärung hierüber braucht viel Zeit, ein gutes Vertrauensverhältnis zwischen Arzt und Eltern und muss im Verlauf einer Studie mehrmals durchgeführt werden. Diese Erfahrung wird von den Pädiatern bestätigt: „Wenn Sie Eltern mitteilen, dass ihr Kind beispielsweise eine Leukämie hat und kommen dann mit den Einwilligungsformularen für eine Studie, dann ist das unmenschlich. Anders geht es aber auch nicht, da das Kind nicht mehr in eine Studie aufgenommen werden kann, wenn die Therapie erst begonnen hat. Ein bis zwei Stunden Zeit müssen Sie dann einplanen“, beschreibt Onkologe Henze die Situation. Fred Zepp gibt ihm recht: „Sie können das in der Pädiatrie nicht als Business betreiben, sonst werden Sie keinen Erfolg haben.“

 

Belastung für die Kinder muss akzeptabel sein

Wird eine klinische Studie geplant, so wird diese immer auch durch eine Ethik-Kommission geprüft. „Die Ethik-Kommission berät den Arzt und den Sponsor der Studie, also denjenigen, der die Studie durchführt, und ist – neben den Behörden – ein wichtiger Filter bei der Genehmigung der Prüfkonzepte“. Darauf wies Dr. Guido Grass hin, der an der Kölner Universitätsklinik die Geschäftsstelle der dortigen Ethik-Kommission leitet. Die Ethik-Kommissionen tragen eine große Verantwortung, wenn es darum geht, Studienkonzepte dahingehend zu überprüfen, ob die Belastung für die Kinder akzeptabel ist. „Wenn Sie bei einem Erwachsenen 80 Milliliter Blut abnehmen, dann ist das möglicherweise sogar gesund, wenn Sie dies jedoch bei einem Neugeborenen machen, das vielleicht überhaupt nur 80 Milliliter Blut im Körper hat, wird das ein ernsthaftes Problem“, machte Grass die Problemlage anschaulich. Um in solchen Fragen fachlich gut gerüstet zu sein, müssen die Ethik-Kommissionen bei Studien mit Kindern in jedem Fall einen Kinderarzt hinzuziehen und können auch sonst immer den Rat externer Gutachter einholen. Darüber hinaus gehört der Kommission auch ein Patientenvertreter an, der Laienblick und Elternverstand einbringen kann.

Nach dem Bürgerlichen Gesetzbuch obliegt den Eltern die Fürsorge für ihr Kind. Ein großes Spannungsfeld bei der Entscheidung über die Teilnahme des Kindes an einer klinischen Studie entsteht dann, wenn von dieser Studie das eigene Kind gar nicht unbedingt profitiert, sondern „nur“ die Kinder, die an der gleichen Erkrankung leiden. „Diese so genannte ‚gruppennützige’ Forschung ist nur zulässig, wenn die Belastungen für das Kind minimal sind“, betonte Grass. Hauptaufgabe der Ethik-Kommissionen sei sicherzustellen, dass die Grenze nicht überschritten werde. Dieser kritische Blick auf die Prüfkonzepte wird auch von den forschenden Kinderärzten sehr geschätzt: „Ethik-Kommissionen sehen in der Konzeption häufig Dinge, die wir als Pädiater nicht im Blick hatten. Die gemeinsame Diskussion ist für uns enorm wichtig und hilfreich“, bekräftigte PAED-Net-Koordinator Zepp.

Die Frage, welche Belastungen zulässig sind und in welchem Maße, lässt sich nicht pauschal beantworten und regulieren. Alle Beteiligten müssen dies für jede Studie immer wieder neu betrachten und bewerten, darüber waren sich die Experten bei dem Gespräch in Berlin einig. Dabei können die Belastungen, die berücksichtigt werden müssen, von wiederholten Blutabnahmen über bestimmte Untersuchungen mit bildgebenden Verfahren bis zum Ausfüllen von Fragebögen oder zu Nachuntersuchungen reichen, die häufiges Fehlen in der Schule bedingen. Dringend notwendig sei die Weiterentwicklung der technischen Möglichkeiten, um die Belastungen zu verringern, betonte Zepp: „Wir können heute schon auf manche Blutabnahme verzichten, weil wir die Information auch durch eine Massenspektographie der Atemluft erhalten können. Ich bin sicher, dass wir die Möglichkeiten der Technologie noch nicht ausgeschöpft haben.“

 

Europäisches Experten­gremium priorisiert den Forschungs­bedarf

Darüber, welche Fragestellungen zuerst untersucht werden sollen, für welche Krankheitsbilder also baldmöglichst Medikamente zur Verfügung stehen sollten, die für Kinder geprüft und zugelassen sind, macht sich nun ein pädiatrischer Sachverständigenausschuss Gedanken, der nach der Vorgabe der Europäischen Kinderarzneimittelverordnung in diesem Sommer bei der europäischen Arzneimittelagentur EMEA eingerichtet worden ist. „Ebenso wie die EMEA insgesamt eine dezentrale europäische Institution ist, setzt sich auch das ‚Paediatric Commitee’ aus Vertretern aller europäischen Länder zusammen“, erklärte Dr. Ralf Herold, der im wissenschaftlichen Verwaltungsrat der EMEA in London für Fragen der pädiatrischen Medizin zuständig ist. Der frühere Geschäftsführer des Kompetenznetzes Pädiatrische Onkologie und Hämatologie, der auch Mitglied im Vorstand der TMF war, machte deutlich, dass die Segmente, bei denen es um schwerkranke Kinder gehe, sicher fokussiert würden, jedoch würden durchaus auch Medikamente aus dem eher alltäglichen Gebrauch einer Prüfung unterzogen. Zu denken sei hier beispielsweise an neue Antibiotika. Dr. Birka Lehmann vom Bundesinstitut für Arzneimittel (BfArM) gehört dem Ausschuss als Vertreterin Deutschlands an. An drei Tagen im Monat trifft sie sich mit ihren europäischen Kollegen des Ausschusses zu Beratungen. „Die Prioritätenlisten, die wir erarbeiten, wird die EMEA auf ihrer Website veröffentlichen“, versprach Lehmann in Berlin.

 

Text: Antje Schütt (Geschäftsstelle TMF e.V.)

Fotos: Wiebke Lesch (Kompetenznetz Angeborene Herzfehler)

 

Materialien zur Veranstaltung

Die Standpunkt-Texte und Kontaktdaten der Experten stehen hier zum Download zur Verfügung. Die elektronische Pressemappe mit weiteren Hintergrundinformationen und Materialien kann als CD bei der TMF-Geschäftsstelle bestellt werden.

 

Pressekontakt:

Antje Schütt
Tel.: 030 / 31 01 19 56
E-Mail

Dr. Peter Lange im Kamingespräch

Das Grußwort sprach Dr. Peter Lange aus dem Bundesministerium für Bildung und Forschung (2. von links). Weiter im Bild (v.r.n.l.: Bettina Baierl (freie Medizinjournalistin), Prof. Dr. Fred Zepp (PAED-Net), Dr. Anika Geisler (Stern), Claudia Richter (rbb-Fernsehen). © TMF e.V.