„Alle, die mit medizinischen Daten umgehen, müssen sich des Reidentifikationspotenzials bewusst sein.“
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In der medizinischen Forschung werden unterschiedliche Maßnahmen ergriffen, um Patienten- oder Probandendaten vor Missbrauch zu schützen. Eine dieser Maßnahmen ist die Anonymisierung, bei der Datensätze von personenbezogenen Angaben bereinigt werden. Dabei besteht eine wesentliche Herausforderung darin, eine möglichst hohe Brauchbarkeit der Daten bei möglichst geringem Reidentifikationsrisiko zu erhalten. Der TMF-Workshop „ANONTrain“ will die Kompetenz von Forschern auf dem Gebiet der Anonymisierung stärken. Prof. Dr. Klaus Pommerening (Universitätsmedizin Mainz) und Dr. Fabian Prasser (Klinikum rechts der Isar der TU München) erläutern im Interview, welche Herausforderungen die Anonymisierung von medizinischen Daten heute mit sich bringt und wie der Workshop für eine angemessene Anonymisierung sensibilisieren will.
Herr Pommerening, in welchen Anwendungsfällen ist eine Anonymisierung von medizinischen Forschungsdaten relevant? Wann ist eine Anonymisierung einer Pseudonymisierung vorzuziehen?
Pommerening: Zunächst sollte man grundsätzlich zwischen Datenspeicherung und Auswertung unterscheiden. Ein Pseudonym erlaubt es, Daten nachzuerheben, Daten aus verschiedenen Quellen zusammenzuführen und auch den Kontakt zum Betroffenen bei Bedarf wieder herzustellen. Alles dies würde verhindert, wenn die Datensätze anonymisiert sind. Daher sollten Daten, die für medizinische Forschungszwecke gespeichert werden, durch Pseudonyme geschützt, aber nicht anonymisiert werden.
Werden die Daten dann Dritten zur Verfügung gestellt, also beispielsweise für eine Auswertung herausgegeben, sollte Anonymität so gut wie möglich sichergestellt werden. Dabei ist eine perfekte Anonymisierung oft mit dem Auswertungszweck nicht vereinbar; daher sind Werkzeuge nötig, die es erlauben, den Grad und die Art der Anonymisierung zu steuern. Zur Publikation vorgesehene Auswertungsergebnisse müssen natürlich absolut anonym sein.
Was sind die Herausforderungen einer Anonymisierung von medizinischen Daten heute? Was benötigt man dazu?
Pommerening: Das Hauptproblem ist zum einen der große Umfang heutiger Forschungsdatensätze. Um medizinische Daten sinnvoll auswerten zu können, braucht man in der Regel viele Detailangaben. Zum anderen gibt es immer mehr potenziell überlappende Daten aus anderen Quellen. Hat ein Patient z. B. drei aufeinander folgende Blutdruckwerte mit Datum ins Internet gestellt, könnten diese ihn schon eindeutig charakterisieren − wie ein Fingerabdruck.
Auch wenn genomische Daten für eine individuelle Therapie verwendet werden – wie es heute unter dem Stichwort „personalisierte Medizin“ zunehmend geschieht – ist eine Eindeutigkeit schnell erreicht. Man braucht also erstens Werkzeuge, also Software, die es ermöglichen, einen Datensatz so gut wie möglich von potenziell identifizierenden Merkmalen zu bereinigen. Allerdings bleibt in den meistens Fällen ein Rest- Identifikationsrisiko, wenn die Daten noch für eine Auswertung brauchbar sein sollen. Daher müssen zweitens trotz einer möglichst guten Anonymisierung für die Daten Zugriffs- und Nutzungsbeschränkungen vorgesehen werden, um Restrisiken auszuschließen. Sogenannte Public-Use-Dateien mit medizinischen Daten verbieten sich in der Regel von selbst.
Herr Prasser, Sie haben das Anonymisierungstool „ARX“ entwickelt, dessen Handhabung im TMF-Trainingsworkshop geschult wird. Welche Funktionen und Vorteile bietet es?
Prasser: Daten werden typischerweise durch Veränderung von Merkmalsausprägungen anonymisiert. Die wesentliche Herausforderung besteht dabei darin, eine möglichst hohe Datenqualität (beispielsweise bezogen auf eine geplante Auswertung) bei gleichzeitig möglichst geringem Reidentifikationsrisiko zu erreichen. Beide Ziele stehen leider in einem inhärenten Widerspruch zueinander. Das Anonymisierungstool ARX zeichnet sich insbesondere dadurch aus, dass es eine Vielzahl von Modellen und Methoden für die wesentlichen Aspekte des Anonymisierungsprozesses unterstützt: für die Veränderung von Daten, für die Analyse der Datenqualität sowie für die Bestimmung von Risiken und Schutzniveaus. Diese breite Methodenunterstützung ist zwingend notwendig, um eine optimale Abwägung zu ermöglichen.
Darüber hinaus ist ARX in der Lage, sehr große Datenmengen effizient zu verarbeiten, und es bietet neben einer Softwarebibliothek eine umfangreiche graphische Benutzeroberfläche, die die bereitgestellten Methoden für Endanwender, beispielsweise Forscher, verhältnismäßig leicht zugänglich macht. Insbesondere die letztgenannte Eigenschaft macht die Software für einen praktischen Einsatz zu Schulungszwecken interessant.
Funktioniert die Anonymisierung dadurch „auf Knopfdruck“? Welche Aspekte muss man dabei bedenken?
Prasser: Da Datenqualität und Reidentifikationsrisiken meist kontextspezifisch abgewogen werden müssen, kann eine Anonymisierung in der Regel nicht auf Knopfdruck erfolgen. Vielmehr ist es notwendig, den gesamten Prozess an einen vorliegenden Anwendungsfall anzupassen, d. h. an den zu anonymisierenden Datensatz und den Datenempfänger. Das schließt, wie bereits erwähnt, neben dem Verändern von Daten ein breites Spektrum weiterer Maßnahmen mit ein. So kann beispielsweise die Menge möglicher Angriffe kontrolliert werden, indem eine Analyse von anonymisierten Daten nur innerhalb der geschützten Räume des Datenverantwortlichen erlaubt wird. Hier ist eine wechselseitige Abstimmung zwischen solchen Sekundärmaßnahmen und der eigentlichen Datenbereinigung notwendig.
Idealerweise wird die Expertise in all diesen Bereichen an einer entsprechenden Stelle gebündelt, beispielsweise den Datenintegrationszentren, die im Rahmen des BMBF-Förderkonzeptes Medizininformatik aufgebaut werden sollen. Grundsätzlich werden sich starke Anonymisierungsverfahren voraussichtlich eher im Bereich „Big Data“ durchsetzen, wo es darum geht, Muster aus großen Datenmengen zu extrahieren und neue Hypothesen zu generieren. In Bereichen, wo feingranulare Datensätze mit strengen Anforderungen an die statistische Validität benötigt werden, spielen Sekundärmaßnahmen eine größere Rolle.
Die Resonanz auf den ANONTrain-Workshop ist sehr groß. Wie läuft er ab? Was lernen die Teilnehmer?
Prasser: Neben einer Einführung in das Thema und seine rechtlichen Rahmenbedingungen lernen die Teilnehmer natürlich den Umgang mit der Anonymisierungssoftware ARX. Das ist aber mehr ein Mittel zum Zweck. Der wesentliche Lerninhalt besteht darin, dass die Teilnehmer einen gründlichen Einblick in die Vielzahl verfügbarer Methoden erhalten und ihre Vor- und Nachteile selbst herausarbeiten. Dies umfasst beispielsweise verschiedene Möglichkeiten, mit denen das Hintergrundwissen eines Angreifers bei der Bestimmung und Reduktion von Risiken berücksichtigt werden kann, und welche Restrisiken dabei verbleiben.
Darüber hinaus werden in den praktischen Übungen wesentliche Kompromisse vermittelt, die bei der Datenanonymisierung eingegangen werden müssen. Zum Beispiel arbeiten die Teilnehmer heraus, wie sich die Dimensionalität und das Volumen eines Datensatzes auf die Qualität der Ausgabedaten auswirken. Diese Inhalte stellen einen Einstieg in die Problematik dar.
Was erhoffen Sie sich von einer so intensiven Beschäftigung mit dem Thema Anonymisierung für die Community?
Pommerening: Zunächst ist wichtig, dass alle, die mit medizinischen Daten umgehen, sich deren Reidentifikationsspotenzial bewusst sind. Hier ist schon der testweise Einsatz eines Anonymisierungswerkzeugs ein Augenöffner – man sieht den Konflikt zwischen Anonymität und Brauchbarkeit der Daten sehr deutlich und lernt die Möglichkeiten sowie die Grenzen entsprechender Verfahren kennen. Dann ist es natürlich wichtig, im konkreten Fall das Werkzeug sachgemäß anzuwenden. Die Komplexität des Problems bringt es mit sich, dass das keine triviale Anforderung ist, sondern einiges an Know-how erfordert. Dieses kann nur durch gründliche Schulung erworben werden.
Es wäre sehr verdienstvoll, wenn die TMF hierzu regelmäßige Kurse anbieten oder vermitteln könnte. Darüber hinaus wäre die Erarbeitung eines Standardvorgehens zur Anonymisierung − im Sinne eines Best-Practice-Leitfadens − für Anwender überaus hilfreich.
Das Interview führte Inger Neick.
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Prof. Dr. Klaus Pommerening ist habilitierter Mathematiker und Professor im Ruhestand. Er leitete die Abteilung Medizinische Informatik an der Universitätsmedizin Mainz. Einer seiner Schwerpunkte ist Datenschutz und Datensicherheit. Er ist langjähriger Sprecher der TMF-Arbeitsgruppe Datenschutz und Koautor des TMF-Leitfadens zum Datenschutz in medizinischen Forschungsprojekten.
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Dr. Fabian Prasser ist promovierter Diplom-Informatiker. Seine Forschungsarbeit am Institut für Medizinische Statistik und Epidemiologie des Klinikums rechts der Isar der TU München konzentriert sich auf Methoden zum Schutz medizinischer Daten. Er ist einer der Hauptentwickler des Anonymisierungswerkzeugs ARX.
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